Blumen für den Führer

Autor*in
Seidel, Jürgen
ISBN
978-3-570-13874-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
431
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2010
Lesealter
14-15 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
16,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Im Jahr 1936, dem Jahr der NS-Olympiade, begegnen sich zwei junge Menschen für kurze Zeit. Sie wissen, dass sie sich nie wieder sehen werden. Reni, die Waise im ländlichen Internat, steht unmittelbar vor einer Atem beraubenden Karriere im NS-System, Jockel, der Knechtssohn vom Gutshof nebenan, wird des Mordes verdächtigt und schafft es gegen alle Wahrscheinlichkeit, auf einem Schiff in die USA zu entkommen. Die mächtig werdende NS-Gesellschaft bildet den Hintergrund.

Beurteilungstext

Reni wurde ausersehen, zur Olympia-Eröffnung dem Führer einen Blumenstrauß zu überreichen. Das ganze Internat gerät in Aufruhr. Offiziell wurde sie gewählt, weil sie das schönste aller Mädchen ist, der eigentliche Grund sind aber verwandtschaftliche Verhältnisse, die ihr erst jetzt, mit 15 Jahren, eröffnet werden: Sie ist die uneheliche Tochter des Grafen, der Gut und Internat besitzt, und der Vater sieht in der Schönheit seiner bislang geheim gehaltenen Tochter eine Chance, Karriere am Hofe Hitlers zu machen. Reni ist ein Fantasie begabtes Mädchen, das ihren Freundinnen Märchen erzählt, in denen sie sich zu Hause fühlt. Sie ist als Waise groß geworden und erfindet sich Eltern, die Albert Schweitzer in Lambarene helfen. Und dieses Helfen will sie realisieren, träumt und erzählt davon noch lange. Ihr Start in Berlin wird von vielen Freunden und Freundinnen des Vaters unterstützt, bis sie auf einer Soiree Hitler begegnet und erkennt, dass alles um sie herum nur Teil des Machtimperiums ist, dass das Hitler-System hermetisch funktioniert und jeder mitspielen will und muss, der sich davon Vorteile verspricht. In diesem Augenblick bemerkt sie, das sie erwachsen wird.
Amüsant ist das vorhergehende äußerliche Verwandeln des jungen, unbedarften Mädchens in Strick und Loden in eine Dame in Kostüm, Tüllkleid und Seidenstrümpfen; die Lust der helfenden Freundin und die Verwunderung des jungen Mädchens über sich selbst sind filmreif beschrieben.
Die Geschichte des gleichaltrigen Jockel ist gegenläufig: Er und sein älterer Bruder sind dem hemmungslos gewalttätigen Vater ausgeliefert, zudem verrät die Mutter die beiden. Dem Älteren wird das schließlich zu viel, er überwältigt den Vater und verlässt das Haus auf dem Wege nach Hamburg. Jockel, der inzwischen zufällig Reni kennen gelernt hatte, will unbedingt Flieger werden, der Vater verwehrt ihm das aber mit Gewalt, er erschlägt im Streit einen gewalttätigen Knecht, der sich von Jockels Vater ermutigt fühlt und ihn anfällt. Auf der Flucht begegnet er Reni kurz, treibt sich herum und kommt schließlich ins Krankenhaus - dort findet er Helfer und trifft noch einmal auf Reni, beide erkennen, dass sie sich lieben und doch nie zueinander finden können. Jockel wird von der Polizei gesucht, will sich aber noch von Reni verabschieden. Sie treffen sich am Auto des Grafen, machen eine kurze Spritztour - und trennen sich wehmütig für immer.
In der Nebenhandlung wird die zunehmende Bedrohung durch die NS-Gesetze immer virulenter. Reni hat im Internat eine junge Erzieherin, die noch aus der Reformpädagogik stammt. Deren Vorgesetzte machen ihr das Leben immer schwerer, bis sie entlassen wird. Fadenscheinige Denunziationen führen schließlich zu ihrer Verhaftung. Zwar wird sie gleich wieder entlassen, aber die dunklen Drohungen und nicht benannten Beschuldigungen erfüllen ihren Zweck. Sie verlässt die Stadt. Oppositionelle werden allerorten verfolgt, noch gibt es Sympathisanten, die ihnen helfen, es ist aber abzusehen, dass sie das bald nicht mehr können.
Eine amüsante Episode zeigt die neue, einflussreiche ältere Freundin Renis im Krankenhaus am Bette Jockels. Sie will gar nichts wissen, gönnt der kleinen Reni nur die Liebesgeschichte und bringt den Jungen sofort in einem Zweibettzimmer unter, was für ihn sonst völlig unerreichbar gewesen wäre.

Dies ist eine NS-Geschichte von innen. Jockel erlebt nichts Politisches, Reni nur solches, aber keiner von beiden durchschaut etwas davon. Da der Autor Renis Erwachsenwerden mit dem Neufinden ihres Vaters verknüpft, hat sie gar keine Chance zu erkennen, dass dessen ganzes Streben dem Nazistaat dient. Sie sammelt früh Bilder vom Führer, später klaut sie im Hotel einen Eierlöffel, von dem Hitler gegessen haben könnte. Das Einzige, was sie erkennt, ist die Zielstrebigkeit der oberen 10 000, vom Kuchen partizipieren zu können - das aber hat mit dem NS-System nichts zu tun, das gibt es immer. Auch dass ihr Traum, “Ärztin für die Neger” zu werden, mit der NS-Ideologie kaum vereinbar ist, will sie nicht recht sehen. Dabei lässt der Autor Einflussreiche durchaus vernehmlich Rassismus pur predigen, allein es fehlt die Erkenntnis. Und der Plot, dass aus einem Waisenmädchen eine veritable Komtesse wird, die sofort in die Gesellschaft aufgenommen wird, entlarvt das System als das, was es war: ein allen Parolen von Gleichheit widerstrebendes erzkonservatives, das nur akzeptiert, was von Geburt her dazu bestimmt war und nicht hochkommen lässt, was, wie Jockel, keine Chancen sieht, von ganz unten kommt und dort bleiben muss.
Dass das Militär später genau diese Möglichkeiten bietet, ist 1936 noch nicht so erkennbar.

Und hier beginnt mein Bauchgrimmen bei der Lektüre. Dem Autor kann man keineswegs unterstellen, NS-Ideologie zu verbreiten, im Gegenteil. Aber er bricht nach gut 400 Seiten die Geschichte, immer noch im Jahre 1936 bleibend, und somit ist das durchaus stimmig, ab. Reni sind beileibe keine politischen Erkenntnisse gewachsen; die ihren sind die des Erwachsenwerdens. Und die Absicht des Autors ist wohl zu zeigen, wie die Menschen manipuliert werden, wie sie in die faschistische Haltung hineinwachsen und dem auch wohl gar nicht ausweichen können. Die meisten Kritiker waren es eben erst nach 1945, nicht vorher - soweit sie im Lande blieben.
Aber wie lesen Jugendliche das heute? Fehlt nicht eine integre Figur, die ganz eindeutig Stellung beziehen kann? Das muss ja kein selbstmörderischer Held sein. Aber Nebenfiguren, die entsprechend handeln, bietet Seidel ja durchaus an, nur sagen die zu wenig zur Sache selbst.
Dennoch, in zunehmendem Maße stelle ich fest, dass eigentlich alle Kinder, Enkel und inzwischen Urenkel ihre Vorväter zu wenig befragt haben über deren Leben im Dritten Reich. Und hier liegt die Stärke des Romans von Jürgen Seidel. Er schildert, wie´s war. Und das in der Sprache von heute, nicht in der verlogenen uneigentlichen Sprache der NS-Zeit, die Jugendlichen heute wohl nur auf die Nerven ginge.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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