Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken

Autor*in
Green, John
ISBN
978-3-446-25903-4
Übersetzer*in
Zeitz, Sophie
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
285
Verlag
Hanser
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2017
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
20,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Aza ist 16 Jahre alt, wächst als Halbwaise bei ihrer Mutter in Indianapolis auf und wird von ihrer besten Freundin als „echt anstrengend“ charakterisiert. Das allein würde schon Stoff genug bieten, um über die Widrigkeiten des Erwachsenwerdens eine nachhaltige Storyline zu entwickeln. Doch der Plot ist komplexer: Denn Azas Andersartigkeit rührt von einer tiefen Angststörung her, die sie daran hindert, Beziehungen aufzubauen. Schritt für Schritt schafft sie es, sich selbst besser zu verstehen.

Beurteilungstext

„Ich wusste wie widerlich ich war. Ich wusste es. Jetzt wusste ich es sicher. Ich war nicht von einem Dämon besessen. Ich war der Dämon.“ (S. 227) Aza beschreibt durchgehend reflektiert, offen und ehrlich, wie verloren sie sich manchmal in ihrem eigenen Körper fühlt.

In einer Art innerem Monolog nimmt sie die Leserinnen und Leser in 24 Kapiteln mit auf eine Reise der Selbsterkenntnis im Umgang mit ihren sehr speziellen Ängsten. Diese Persönlichkeitsstörung lässt sie Dinge tun, die trotz unlogischen Grübelns nicht sinnvoll erscheinen. Dass sie darüber so nachhaltig berichtet, wirkt deshalb überraschend, weil sie im Austausch mit ihren Mitmenschen eher wortkarg und introvertiert auftritt, da sie eigentlich nie genau weiß, was sie sagen soll. Das wirkt auf andere manchmal merkwürdig und egozentrisch. Dafür macht sich Aza umso mehr Gedanken, die sie dank ihrer Therapeutin als intrusiv darstellt – und bereits die Bezeichnung hilft ihr, das Gefühlte zu versprachlichen. Genau dieser Prozess unterstützt Aza darin, die diffuse Ohnmacht gegenüber der Kraft ihrer Gedanken und Zwangsstörungen zu vergegenständlichen. Auch wenn die Heranwachsende ihre wirkliche Angst selten konkret erklären kann, manifestiert sich diese im gesellschaftlichen Leben in erster Linie in der Sorge, sich mit dem Bakterium Clostridium difficile anzustecken, das tödliche Auswirkungen zeigen kann.

Feinfühlig und phasenweise philosophisch beschreibt die jugendliche Ich-Erzählerin, wie die Gedankenspiralen um eine potentielle (eher unwahrscheinliche) Infektion sie manchmal einnehmen und quasi fremdgesteuert lenken. Schließlich akzeptiert Aza ihre psychischen Probleme als Teil von sich selbst: „Ich würde immer so sein, ich würde diese Verhaltensweisen immer haben. Ich konnte sie nicht überwinden. Ich konnte den Drachen niemals besiegen, weil der Drache auch ich war. Ich und meine Krankheit waren lebenslang miteinander verknüpft.“ (S. 276)

John Green bettet die modifizierte Coming-of-Age Erfahrung in eine bemerkenswerte Erzählung ein, die einer ausgefallenen Dramaturgie folgt und gepaart mit der lebendigen Erzählweise gute Voraussetzungen bietet, die Geschichte zu verschlingen. Aza wird von ihrer besten Freundin Daisy überredet, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russel Picket zu beteiligen, weil für sachdienliche Hinweise eine hohe Belohnung ausgesetzt ist. Aza kennt den Sohn des Vermissten, Davis, noch aus dem Ferienlager für Kinder mit toten Eltern. Dieser Kontakt soll helfen, damit die beiden Freundinnen schnell an das Geld kommen.

Doch die Begegnung zwischen Aza und Davis weckt mehr Gefühle als geplant. Die beiden kommen sich näher und verbringen immer mehr Zeit miteinander. Mit dem ersten Kuss beginnt jedoch Azas Gedankenkarussell zu kreisen: Wenn sich die Mikroben von Davis dauerhaft in ihr ansiedeln, würde dies ihre Darmflora verändern und sie könnte kurzfristig an C. difficile sterben. Aza zieht sich zurück. Davis, der bereits seine Mutter durch eine Krankheit verlor, will Aza an sich binden und zahlt ihr die Summe der Belohnung im Vorfeld aus, damit sich die beiden ohne Hintergedanken näherkommen können. Aza hingegen verrennt sich immer stärker in ihren Ängsten und entsagt sich schlussendlich einer möglichen Beziehung zu Davis. Ihre eigenen Wunden – möglicherweise durch den plötzlichen Tod ihres Vaters entstanden – sind einfach nicht heilbar. Symbolisch wird dies dargestellt an der Fingerkuppe ihres Mittelfingers, die sie sich immer wieder mit dem Daumennagel aufkratzt, um zu testen, ob sie selbst eventuell nur eine Fiktion ist. Als Zwangshandlung schaut sie mehrmals pro Tag nach, ob sich eine Entzündung anbahnt, deckt die Stelle dann aber schnell wieder mit einem Pflaster ab.

Doch das eigene Innenleben kann nicht immer mit einem Pflaster geheilt werden. Es will bearbeitet werden. Dazu ruft Green auf, indem er Aza als eine Protagonistin präsentiert, die sich im Laufe der Geschichte trotz aller Abhängigkeiten von inneren Dilemmata weiterentwickelt, die die Verkettung von Umständen nutzt, über sich hinauszuwachsen. Dabei durchschaut sie einerseits die gut gemeinten Ratschläge ihrer Therapeutin und Mutter und vollzieht sinnvoll nach, dass sie nicht die Summe ihrer Gedanken ist. Andererseits bekennt sie sich zunehmend zu ihrer Andersartigkeit: „Es ist seltsam zu wissen, dass man gestört ist und nichts dagegen tun kann.“ (S. 202)

Green kombiniert mit der Story Phänomene der heutigen Zeit bewusst pointiert und dies gekonnt. Mit der ausdrücklichen Thematisierung von psychischen Problemen zeichnet er nach, dass die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz zunehmend vielfältiger wird. Die „Generation beziehungsunfähig“ hat mit sich selbst genauso zu kämpfen wie mit der Orientierung in der Welt. Gleichzeitig können Freundschaften gerade dabei Halt bieten.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Veröffentlicht am 13.10.2018

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