Hinter Glas

Autor*in
Rabinowich, Julya
ISBN
978-3-446-26218-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
208
Verlag
Hanser
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2019
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Das Leben von Alice ist aus den Fugen geraten und liegt buchstäblich wie ein zerbrochener Spiegel in tausend Scherben vor ihr. In 24 Spiegelscherben-Kapiteln - gerahmt von einem richtungsweisenden Prolog sowie einem resümierenden Epilog - schildert die junge Ich-Erzählerin die Emanzipation aus ihrem von Gewalt geprägten Elternhaus. Im Stil eines Coming-of-Age-Romans beschreibt sie reflektiert und schamlos, wie sich der Blick auf die Welt im Laufe ihres individuellen Reifeprozesses verändert.

Beurteilungstext

Der Titel „Hinter Glas“ ist programmatisch. Alice sitzt in einem goldenen Käfig: Ihre Eltern sind wohlhabende Menschen und bieten ihrer Tochter ein luxuriöses Leben in einer schönen Villa mit viel Reichtum. Doch der hübsche Schein trügt, denn in Wirklichkeit herrschen hinter der Fassade brutale Umgangsweisen. Der tyrannische Großvater unterdrückt die gesamte Familie und so sitzen sowohl Alice als auch ihre Eltern in einem Glashaus, das jederzeit zerstört werden kann. Allein die Tochter schafft es, zunächst durch die entstehende Beziehung zu dem neuen Schulkameraden Niko, aus dem ritualisierten Teufelskreis auszubrechen und überzeugt schlussendlich ihre Eltern davon mitzugehen.

Niko kommt gerade von einer Weltreise mit seinem Vater zurück, wirkt verwegen und sucht von Anfang an die Nähe zu Alice. Als er erkennt, wie andere Mitschüler Alice mobben und ausgrenzen, verteidigt er sie selbstverständlich. Während der Klassenfahrt kommen sich die beiden im Zeltlager näher und werden ein Paar. Durch diese neue Vertrautheit gestärkt, beschließt Alice, von zu Hause auszureißen. Zunächst kommen beide bei Nico unter. Doch Nicos Mutter toleriert das nur kurz. Deshalb verlassen Nico und Alice zusammen das vertraute Umfeld, schwänzen die Schule und geraten bei einem Freund von Nico in ein völlig neues Milieu. Während Nico sich dem Partyleben hingibt, wird es Alice schnell langweilig. Dadurch verändert sich auch die Beziehung zwischen ihnen, denn Nico wird immer häufiger aufbrausend, unberechenbar und schließlich sogar handgreiflich.

Eines Tages sieht Alice zufällig ihre eigene Mutter in der Stadt und merkt, wie sehr ihr ihre Familie fehlt. Doch den Weg zurück ins Elternhaus schafft sie erst durch ihren imaginären Freund, einen sphinxartigen Hund, der scheinbar einen Teil ihres Unterbewusstseins darstellt.

Die beeindruckende Emanzipationsgeschichte der Protagonistin überrascht besonders durch die außergewöhnliche Erzählsituation. In die 24 Spiegelscherben-Kapitel mischt sich unregelmäßig eine weitere Erzählerstimme ein, die sich typografisch durch eine andere Schriftart absetzt, inhaltlich aber aus der Perspektive eines separierten Teil-Ichs agiert und in direkter Weise zu der Ich-Erzählerin spricht, um ihr gewissermaßen Mut zu machen. Da diese Figur aber bis zum Schluss eine nebulöse Erscheinung bleibt, spielt die Autorin damit eine fantastische Ebene ein, die sowohl als imaginärer Freund als auch die Personifizierung des Urvertrauens gedeutet werden kann.

Dea, so wie Alice dieses Wesen nennt, tritt erst im letzten Drittel des Buches aktiv in Erscheinung. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Protagonistin bereits an ihrem eigenen Lebensweg zweifelt, weil sowohl die durch die Familie vorgegebene Linie als auch ihr selbst bestimmte Wege mit dem verwahrlosten Niko keine wirklichen Optionen anbieten. Doch mit Dea an ihrer Seite schafft Alice es endlich, dass sich ihre Eltern von ihr überzeugen lassen und zusammen mit ihr ein neues Leben außerhalb des Einflussbereichs des Großvaters beginnen.

Durch diesen Entwicklungsprozess und der positiven Wendung kann der Adoleszenzroman eindeutig als Coming-of-Age-Erzählung typisiert werden. Die intertextuellen Bezüge zu Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ sind nicht nur durch die Namensgleichheit gegeben, sondern werden regelmäßig explizit gemacht, indem Alice ihre Mutter z.B. als Herzdame bezeichnet oder sich selbst „wie Alice im Wunderland in ihrem Tränensee“ (S. 197). Die fantastische Nuance erhält die Erzählung durch das rätselhafte Wesen Dea. Diese Erscheinung bietet viel Diskussionsanlass und Möglichkeiten auch für philosophische Anschlusskommunikation. „Dea war ein Teil von mir. Der Teil, der sich an alles erinnerte. An alles. Dea war der älteste Teil von mir.“ (ebd.)
Der Roman bietet literaturdidaktisches Potenzial und kann im Unterricht - besonders wegen seiner literarischen Ästhetik - unter verschiedenen Facetten bearbeitet werden.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Veröffentlicht am 05.10.2019

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