Der Junge, der Gedanken lesen konnte

Autor*in
Boie, Kirsten
ISBN
978-3-7891-3191-2
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Kehn, Regina
Seitenanzahl
320
Verlag
Oetinger
Gattung
Krimi
Ort
Hamburg
Jahr
2015
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
8,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Valentin kennt noch niemanden in der neuen Stadt, in die er mit seiner Mutter gezogen ist. Bei seinen Erkundungen lernt er Mesut kennen. Als Detektiv-Duo lösen sie den kniffligen Fall um den Gentlemen-Räuber.

Beurteilungstext

Kirsten Boie hat mit “Der Junge, der Gedanken lesen konnte”, einen spannenden, intelligenten, vielschichtigen Kinderkrimi geschrieben. Im Vordergrund stehen ungewöhnliche Ereignisse, die sich aus drei Erzählspuren zu einem Kriminalfall entwickeln, den Boie aus der Sicht des zehnjährigen Valentin erzählt. Valentin ist ein untypischer Held, der als erstes auskundschaftet, wo in der neuen Stadt, in die er mit seiner Mutter gezogen ist, die nächste Bibliothek ist. Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen zum Lesen entdeckt er den Friedhof und knüpft dort seine ersten Kontakte. Doch nicht etwa zu Gleichaltrigen, sondern zum polnischen Friedhofsgärtner Bronislaw, dem Ehepaar Schilinsky, das sich zu Lebzeiten statt eines Schrebergartens eine Grabstätte gekauft hat und nun den Sommer dort auf dem künftigen Grab feiernd und picknickend verbringt, den alten Herrn Schmidt, der sich auf seinen Tod freut und die seltsame Frau, die alle nur Dicke Frau nennen. Hier entdeckt Valentin auch seine Gabe, die Gedanken der Menschen zu lesen. Es passiert, wenn er jemanden zu lange anschaut. Dann nimmt er nicht nur die Gedanken des anderen wahr, er spürt auch die Gefühlslage, in der die Person sich befindet. Diese Fähigkeit verstört ihn sehr, doch nutzt sie ihm auch, um Mesut als Partner für sein Detektivbüro zu gewinnen und schließlich auch, um den Fall des Gentlemen-Räubers zu lösen. Boie nutzt die Kriminalgeschichte, um verschiedene Problematiken darzustellen, ohne die Geschichte zu überfrachten. Migration ist ein wichtiges Thema: Valentin kommt aus Kasachstan, Mesut aus der Türkei. Diese Tatsache hat einen großen Einfluss auf das alltägliche Leben der Kinder, dem Boie feinfühlig nachspürt und dabei aber weder in Klischees verfällt oder einseitig Partei ergreift. Vielmehr gelingt es ihr, die Normalität dieser Realität herauszustellen. Mesut und Valentin sind Protagonisten mit Migrationshintergrund, sie erfahren Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung, tragen ihre Sehnsüchte nach Heimat und Zugehörigkeit mit sich herum, sind aber eben auch zwei Jungs, die clever und selbstverständlich in der Geschichte agieren. Boie findet dabei eine Balance, das Unterscheidende, Irritierende am anderen darzustellen, aber sie lenkt das Augenmerk auch immer wieder auf Gemeinsames, Universelles, Verbindendes, das im Menschlichen verankert ist. Sie wirft einen respektvollen Blick auf Menschen, die entweder am Rande der Gesellschaft stehen, wie "Dicke Frau", oder auf jene, die gewöhnlich erscheinen, wie das Ehepaar Schilinsky, das in seiner Offenheit und Direktheit ganz nebenbei aufzeigt, wie Integration funktioniert. Boie beschönigt nichts und hat den Mut, auch unangenehme, quälende Gedanken so auszusprechen, dass sie nachvollziehbar werden, beispielsweise wenn Valentin über die Schuld am Tod seines Bruders nachdenkt. Sie macht dem Leser begreiflich, dass die Menschen so sind wie sie sind, weil ihre Lebensgeschichte sie dazu gemacht hat. Bei diesem Kunststück kommt sie ohne jede Sprachakrobatik und moralischen Weichzeichner aus, erzählt unaufgeregt und schlüssig: Die Sprache hat den hauptsächlichen Zweck, eine gute Geschichte erlebbar zu machen. Wenn sie "Dicke Frau" drastisch fluchen lässt, so ist das als Charaktermerkmal tragend und nicht sensationslüsterner Gebrauch von Kraftausdrücken in einem Kinderbuch. Sie holt die hässlichen Randzonen innerstädtischen Lebens, wie Einkaufspassagen mit Ein-Euro-Shops und Drogerieketten als zeitgemäße Realität ins Buch, legitimiert sie als ästhetischen Gegenstand und schafft so Bezugspunkte, die sich in der Reflexion gerade mit Lesern aus ähnlichen Lebensumständen sehr gut nutzen lassen. Aufmerksam gelesen, eröffnet "Der Junge, der Gedanken lesen konnte" eine Reihe wichtiger Themenfenster, die kontrovers diskutiert werden können, wie z.B. die Frage, was Heimat ausmacht, ob Heimat und Zugehörigkeit dasselbe sind, ob Gesetz und Gerechtigkeit immer übereinstimmen und was im Konfliktfall mehr zählt.
Die schwarz-weißen Illustrationen von Regina Kehn begleiten den Text, schränken aber eher die Vorstellung der Charaktere ein, da sie deren Individualität nicht annähernd erfassen, schaffen jedoch für weniger geübte Leser Verschnaufpausen und bieten die Möglichkeit eines inhaltlichen Abgleichs. Zeichnungen von Situationen, die wie Standbilder den Inhalt übersetzen, wechseln sich ab mit Bildern, in denen Momente, Details, Elemente aus dem vorangegangenen Text frei kombiniert werden und die Gleichzeitigkeit und sinnliche Dichte von Valentins Gabe des Gedankenlesens darstellen.

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Veröffentlicht am 28.09.2015

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