Wie man eine Raumkapsel verlässt

Autor*in
McGhee, Alison
ISBN
978-3-423-64071-8
Übersetzer*in
Kollmann, Birgit
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Ng, Sherman
Seitenanzahl
208
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Gehen. Gehen. Gehen. Für den 16-jährigen Will, der tagsüber in einem „Dollar Only“-Laden arbeitet, ist es fast so etwas wie ein Mantra. Die Füßen finden wie von selbst den Weg – oder vermeiden bestimmte Straßen. Will muss sich den Tag rauslaufen. Es ist sein ganz eigener Weg, mit dem unverhofften Selbstmord seines Vaters klarzukommen, raus aus der Hülle, die ihn zu umgeben scheint. Und auch hin zu seiner Freundin Playa, die ebenfalls ein traumatisches Erlebnis verarbeiten muss…

Beurteilungstext

Die New Yorkerin Alison McGhee gehört mit einer Vielzahl von Auszeichnungen, darunter auch einer Nominierung für den Pulitzer-Preis, zu den herausragenden Literatinnen unserer Zeit.
Da mutet es zunächst irritierend an, wenn sie ihren ergreifenden Adoleszenzroman „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ völlig unspektakulär mit der banalen Frage nach dem Rezept für ein Maisbrot beginnen lässt. Tatsächlich gibt es wenig Action im homodiegetisch vom Protagonisten Will erzählten Plot; dennoch wird mit subtilen Andeutungen ein emotional dichter Spannungsbogen aufgebaut.
Ungewöhnlich ist das Druckbild. Es gibt keine Kapiteleinteilungen oder Überschriften. Der Seitentext, der jeweils wie eine kurze Episode einen gewissen Abschluss aufweist, findet sich ausschließlich auf den ungeraden Seitenzahlen und beginnt durchgängig erst mittig; die obere Seitenhälfte ist leer – vielleicht ein Hinweis auf Wills innere Leere nach dem Freitod seines Vaters. Eine derartige Seitenanordnung erinnert eher an einen Gedichtband als an einen Roman; der Eindruck wird noch verstärkt durch jeweils drei große, kalligrafisch ausgeführte chinesische Schriftzeichen auf sämtlichen gerade nummerierten Seiten; was sie bedeuten, wird leider nicht erläutert. Dennoch resultiert aus dieser Aufteilung der Eindruck von Poesie, von Bedeutungsinhalten zwischen den Zeilen, von Gemütszuständen der handelnden Romanfiguren, aber auch von etwas Unsagbarem, dass sich im Kopf der Leserinnen und Leser entwickelt. Soll heißen: Um der Intensität des Romans gerecht zu werden, braucht es mehr als bloßes Lesen. Es braucht ein Nach-Denken, ein geradezu meditatives, mitfühlendes Sich-Einlassen auf die extrem belastende Situation der Romanfiguren Will und seiner Freundin Playa, die mehrfach vergewaltigt wurde. Beide versuchen, sich langsam in ein halbwegs normales Leben zurückzukämpfen.
Einen wichtigen Beitrag leisten im Text auch die musikalischen Verweise; im konkreten Fall handelt es sich dabei um verschiedene Songs von David Bowie. Sie haben für Wills Vater, der völlig unerwartet sein Leben durch Suizid beendet hat, eine relevante Rolle gespielt haben; sie wecken bei dem verzweifelten Will jeweils situationsbezogene, schmerzliche Erinnerungen an die väterliche Identifikationsfigur. Musik sei die Zuflucht der Einsamen; und er solle weitermachen, weil überall, selbst im Dunkeln, Segen zu finden sei. Das hat der Bowie-Fan seinem Sohn erzählt (S. 203). Unter den an vielen Stellen zitierten Textzeilen erweist sich die wiederholt verwendete Aufforderung „Don’t let the bastards get you down“ dabei als eine eminent wichtige Motivation für Wills und Playas Suche nach einer Normalität, die bildhaft als das Verlassen einer Raumkapsel bezeichnet wird.
In unkomplizierter Sprache gelingt es der Autorin, den Leserinnen und Lesern die gedrückte Stimmung der beiden Hauptfiguren einfühlsam und verständlich zu vermitteln: das fehlende Vertrauen in die eigene Person, die einkapselnde Vermeidung von Kontakten, zugleich aber die unstete Suche nach einem Halt, nach mitmenschlicher Nähe, nach neuen Zielen. Gut passt dazu das gleichermaßen empfindsam angedeutete, unspektakuläre Happy End.
Es sei an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen, dass es sich bei einer „echten“ Depression um eine schwere Erkrankung handelt, die in der Regel über längere Zeit fachtherapeutisch, medikamentös oder mit klinischem Aufenthalt behandelt werden muss – und nicht „gehend“, mit Segenssprüchen oder menschlicher Zuwendung (wie im Roman) angegangen werden kann. In McGhees Roman geht es jedoch richtigerweise um anlassbezogene schwere psychische Belastungen, sogenannte „depressive Verstimmungen“, bei denen die erwähnten Maßnahmen und Handlungsweisen zur Stabilisierung einer psychischen Ausnahmesituation zweifellos Erfolg versprechend eingesetzt werden können. Unter diesem wichtigen Aspekt kann jugendlichen Betroffenen (deren Anzahl aktuell erheblich zugenommen hat!) wie auch allen in irgendeiner Weise Mitbetroffenen und Interessierten das spannende Buch „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ als motivierende, Mut machende Lektüre uneingeschränkt empfohlen werden.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPGK; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 21.05.2021

Weitere Rezensionen zu Büchern von McGhee, Alison

McGhee, Alison

Wie man eine Raumkapsel verlässt

Weiterlesen
McGhee, Alison

Nachrichten von Micah

Weiterlesen
McGhee, Alison

Wie man eine Raumkapsel verlässt

Weiterlesen
McGhee, Alison

Liebe Schwester. Briefe an meine kleine Nervensäge

Weiterlesen
McGhee, Alison

Liebe Schwester. Briefe an meine kleine Nervensäge

Weiterlesen
Appelt, Kathi; McGhee, Alison

Renn, Senna, renn

Weiterlesen