Wie du mich siehst

Autor*in
Mafi, Tahereh
ISBN
978-3-7373-5696-1
Übersetzer*in
Ganslandt, Katarina
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
352
Verlag
FISCHER KJB Sauerländer Duden
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Frankfurt am Main
Jahr
2019
Lesealter
14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Das Thema Rassismus ist seit der Black Lives Matters Bewegung in den USA wieder verstärkt in den Blickwinkel der ganzen Welt geraten und wird in dem Roman „Wie du mich siehst“ von Tahereh Mafi auf erschreckende Weise in den Fokus gerückt. Die autobiographischen Bezüge der Autorin, die selbst iranischer Abstammung ist und nach den Anschlägen vom 11. September sich wie ihre Heldin Shirin ins Musikhören und Breakdance-Training flüchtete, sind durch eine wortgewaltige und kraftvolle Sprache dargestellt, sodass die Leser*innen an einer intensiven und emotionalen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht vorbeikommen.

Beurteilungstext

Das Buch „Wie du mich siehst“ von Tahereh Mafi handelt von einem sechszehnjährigen Mädchen aus dem Iran. Die Ich-Erzählerin Shirin, der Name bedeutet „süß“ (S. 162), lebt in den USA und wechselt zum zwölften Mal auf eine Highschool, an der sie aufgrund der Ereignisse des 11. Septembers auf das heftigste beleidigt und diskriminiert wird, besonders aufgrund ihres Kopftuches („Es war total egal, wie akzentfrei mein Englisch war. Es war egal, wie oft ich den Leuten sagte, das ich hier geboren war, dass mein Englisch meine erste Sprache war, dass sich meine Cousins und Cousinen im Iran über mich lustig machten, weil ich holpriges Farsi mit amerikanischem Akzent sprach – alles egal. Sie nahmen trotzdem automatisch an, ich wäre frisch per Boot aus irgendeinem fernen Land gekommen“, S. 8).
Ihrem Bruder Navid, 18 Jahre, geht es anders, weil er nach Meinung seiner Schwester gutaussehend ist und als „schöner Exot“ (S.10) von seinen Mitschüler*innen wahrgenommen wird. Ihr inniges Verhältnis wird deutlich, als die Erzählerin von der Legasthenie ihres Bruders spricht, die er dank ihrer Hilfe überwindet. Ihre Eltern, Immigrant*innen aus dem Iran, arbeiten jeden Tag hart und nehmen die vielen Umzüge in Kauf, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. In der gesamten Handlung zeigen sie jedoch wenig Anteilnahme am Leben ihrer Kinder. Sie sind zwar liebevoll, kümmern sich aber wenig um die Probleme ihrer Kinder.
Die Schauplätze sind überwiegend auf die Schule mit Turnhalle und Parkplatz und das Zuhause der Protagonist*innen beschränkt. Die erzählte Zeit umfasst ein Schuljahr, wobei am Anfang besonders mit Zeitdehnung, am Ende mit einer starken Zeitraffung gearbeitet wird.
Rassismus ist für die Protagonistin jeden Tag allgegenwärtig: Sie wird als „Taliban“, „Windelkopf“ und „Terroristin“ bezeichnet und sogar auf dem Heimweg von zwei Jungen aus ihrer Schule attackiert („Vom elften September an durfte ich nicht mehr einfach nur ein Mädchen sein, ein Mensch aus Fleisch und Blut – nein, ich war jetzt automatisch mehr.“, S. 181). Ihren Schulalltag absolviert die junge Frau gleichgültig, um sich gegen die rassistischen Mechanismen zu schützen und nicht verrückt zu werden. Ihr Ziel ist, die Schule hinter sich zu lassen und studieren zu gehen. Sie wirkt auf ihre Mitmenschen verschlossen, desinteressiert und aggressiv.
Sie beschließt sich von ihrer Außenwelt durch Musik abzugrenzen und gegen alle Menschen in ihrem Umfeld eine große Wut zu entwickeln. Die einzige Freude empfindet sie, als ihr Bruder eine Break-Dance-Crew mit seinen Kumpels gründet, in der sie als einziges Mädchen mitmacht und neue Lebensfreude schöpft.
Im Biologie-Kurs lernt zu Beginn des Schuljahres den Jungen Ocean James kennen, der sich im Gegensatz zu allen anderen für sie interessiert. Ocean zeigt nach und nach Interesse an ihr. Lange konnte sie das Interesse an ihr nicht verstehen („nette, weiße Typen wie er verabreden sich nicht mit merkwürdigen muslimischen Mädchen“, S. 50), doch langsam baut sich zwischen beiden eine intensive Beziehung auf, die für uns Leser*innen besonders durch Chatverläufe und Telefonate zu verfolgen ist. Aus Angst vor den Reaktionen der anderen ignoriert sie ihn immer wieder, geht nicht ans Telefon, aber Ocean überzeugt sie schließlich mit seiner offenen und ehrlichen Art. Ocean, als individueller und sympathischer Charakter, trägt sein Herz auf der Zunge und kämpft im Verlauf der Handlung immer stärker für eine gemeinsame Zukunft mit Shirin, wobei ihm die Wellen, je stärker er kämpft, immer höher entgegenschlagen. Seine Entwicklung vom Sunny-Boy zum Rebellen ist realistisch gezeichnet und enthüllt auch bei ihm eine Vergangenheit, unter der er leidet.
Die Sprache in dem Roman bewegt sich aufgrund der unterschiedlichen Thematiken zwischen zwei Polen: Liebe und Rassismus. Die Worte für die Gefühle der Jugendlichen sind so kraftvoll und treffend, dass man nur so über die Handlung hinwegfliegt. Die Autorin verwendet sprachliche Bilder wie „Er setze sein Herz den Elementen aus“ (S. 172) oder „Ich bestand nur noch aus Herzschlag und Atem in unendlicher Wiederholung“. Jedoch finden sich in der Sprache aber auch immer wieder Hinweise auf Verletzungen und Bedrohungen wie in dem Vergleich: „wir flogen auseinander wie Granatsplitter“ (S. 259).
Die Welt der Muslima gerät aus dem Gleichgewicht, als sie erfährt, dass ihr Freund ein sehr bekannter Basketballspieler an der Schule ist, als Spieler des Jahres gehandelt wird und ein Jahr älter als sie selbst ist. Einen Monat sind sie nun ein Paar, bis sie gemeinsam zur Schule fahren. Der Parkplatz, als Motiv für die starren Hierarchien an der Highschool, wird als eine eigene Welt beschrieben. („Ich hatte das morgendliche Parkplatzritual nie mitbekommen (...). Aber als Ocean mir an diesem Morgen die Wagentür öffnete und ich ausstieg, trat ich in eine andere Welt. Alle waren da.“ S. 266). Dann bekommt Ocean zum ersten Mal unmittelbar mit, wie seine Freundin nicht nur beleidigt, sondern persönlich attackiert wird. Danach reiht sich eine Gemeinheit an die andere: Shirin wird auf dem Mädchenklo ohne Kopftuch fotografiert und Ocean wird in einer Rundmail eines Hackers an der Schule unterstellt, mit seiner Beziehung zu Shirin den Terrorismus zu unterstützen. Die junge Frau bricht unter dem Druck des Coaches und der Mutter Oceans schließlich zusammen, die versuchen, sie von einer Trennung zu überzeugen. Shirin lenkt sich nach der Trennung vor allem mit einem ab: Breakdance. Sie trainiert hart und brilliert in der langersehnten Talentshow. Ihre soziale Stellung ändert sich nach dem Auftritt schlagartig und sie wird zu einem beliebten Mädchen.
Bei ihrem Wiedersehen nach fünf Wochen an ihrem Schließfach übermannen beide Figuren ihre Gefühle. Shirin verlässt daraufhin überstürzt den Ort und vergisst dabei, ihr Schloss an ihrem Schrank zu sichern, in dem sich ihr Tagebuch, ein Leitmotiv im Roman, befindet. Die Sechzehnjährige verarbeitet ihre Erlebnisse in einem Tagebuch, das sie immer bei sich trägt und täglich schreibt. Es rahmt die Handlung am Ende ein. Auch das Kopftuch, was immer wieder Grund für rassistische Angriffe ist, bildet ein weiteres Leitmotiv. Es beschützt sie, verhüllt ihre Kopfhörer, mit der sie in eine andere Welt eintaucht, entblößt sie aber auch, als Fotos von ihr öffentlich gemacht werden.
Die Handlung verdichtet sich am Ende stark: Ocean wird der Schule verwiesen, weil er seinem Trainer die Nase gebrochen hat. Am nächsten Tag steht er vor ihrer Tür. Gemeinsam schwänzen sie einen Tag Schule und fahren das erste Mal zu seinem Zuhause. Durch die bildhafte Sprache („Es war, als würden wir von ganz vorne anfangen, als würde mein Herz wieder einen Infarkt bekommen und meine Nerven Funken sprühen und mein Kopf sich mit heißem Dampf füllen“, S. 342) und Vergleiche („als wären wir Ertrinkende, als wären wir verschollen, für tot erklärt in der unendlichen Weite des Meeres“, S. 343) werden die starken Gefühle der beiden lebendig geschildert.
In dem Buch werden die Themen Rassismus, Angst, Liebe, Vorurteile, Musik und Breakdance ergründet. Besonders zum Thema Rassismus lassen sich die vergangenen Polizeiangriffe in den USA gegen Menschen anderer Hautfarbe aufzeigen, aber auch die aktuellen Übergriffe gegen die asiatische Bevölkerung aufgrund der Corona-Pandemie weltweit. Das Vorwissen zu den Anschlägen am 11. September ist für die Leser*innen notwendig, um die Vorurteile und die diskriminierende Sprache wie „Taliban“ zu verstehen. Die religiösen Begriffe wie Hidschab (Kopftuch) und Ramadan (Fastennacht) werden im Laufe der Erzählung gut und verständlich eingebunden, sodass das Wissen zum Thema Islam in Klasse 7 in Religion sicher hilfreich, aber nicht notwendig ist.
Besonders in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern wie Religion/Philosophie, Sozialkunde und Geschichte lässt sich das Thema Rassismus durch das Buch sehr gut einbinden, aber auch in den Sprachen Deutsch (Kommunikation/missglückte Kommunikation, Jugendsprache) und Englisch (Diskriminierung/Rassismus/ Highschool/ Leben in den USA).
Das Buch würde sich für eine Projektwoche zum Thema Rassismus bzw. der Aktion „Schule gegen Rassismus/ Schule mit Courage“ als roter Faden anbieten, da es viele Anschlussstellen bietet. Insbesondere bzgl. des Nachdenkens über Handlungsstrategien gegen Diskriminierung durch Rollenspiele bietet das Buch lebensnahe Szenen.
Ich empfehle das Buch sehr für Leser*innen ab 14 Jahre, weil das Thema Rassismus auf glaubwürdige und erschreckende Weise dargestellt wird. Eingebettet in eine realistische Liebesgeschichte, die weder kitschig noch konstruiert wirkt, geht die Erzählung durch ihre emotionale und klare Sprache unter die Haut. Die Jugendsprache ist für Jugendliche ansprechend gewählt und die Gliederung des Textes in Kapiteln erleichtert das Lesen. Die Andeutungen der Ich-Erzählerin zum Ende der Kapitel verstärken die permanente Spannung.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Kajo; Landesstelle: Mecklenburg-Vorpommern.
Veröffentlicht am 12.07.2023

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