Der Junge im gestreiften Pyjama

Autor*in
Boyne, John
ISBN
978-3-596-85228-4
Übersetzer*in
Jakobeit, Brigitte
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
266
Verlag
FISCHER Schatzinsel
Gattung
Ort
Frankfurt
Jahr
2007
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
13,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Bruno und seine Familie müssen ihr schönes, abenteuerlich-verwinkeltes Haus und alle Freunde in Berlin verlassen und ziehen in ein unansehnliches Gebäude irgendwo auf dem Land. Der naive und weltfremde kleine Bruno erkennt nicht, um was es sich handelt: sein Vater ist Kommandant des KZ Auschwitz. Befremdlich sind ihm die SS-Offiziere, das Personal aus dem KZ, der Lagerzaun. Über diesen Zaun freundet er sich mit einem gleichaltrigen Häftling, Schlomo, an.

Beurteilungstext

Bruno ist neun, als die Familie umzieht.
Der Autor erzählt aus der Sicht des Jungen, der aus einer wohlsituierten Familie stammt. Er spricht altklug und gewählt, das Ordinäre ist ihm fremd und er wundert sich, wenn andere Kinder Ausdrücke benutzen, die ihm verboten sind. Dem Leser wird schnell deutlich, dass in der Familie zwar gewählt gesprochen wird, vieles aber kein Thema der Unterhaltung ist. Genauso wie Bruno das Büro des Vaters nicht betreten darf, wird ihm auf bestimmte Fragen nicht geantwortet. Seine drei Jahre ältere Schwester bezeichnet er als “hoffnungslosen Fall”, weil er mit ihr nicht spielen kann.
Fassungslos schauen die Geschwister aus dem Fenster in ihrem neuen Haus auf die Insassen des KZ Auschwitz und begreifen nichts, außer dass sie nur schmutzige junge und alte Männer, keine Frauen, in “Pyjamas” sehen und Soldaten, die ihnen irgendetwas beibringen wollen. Diese kindlich-naive Sicht behält Bruno konsequent bei. Selbst wenn er mitbekommen müsste, dass hier eine andere Welt mit anderen Gesetzen besteht als in seinem bürgerlichen Berlin, lernt er nicht.

Leider stimmt der gesamte äußere Rahmen nicht. Angefangen von den harmlos klingenden Offiziersrängen, denen das Bedrohliche der SS-Ränge im Verlaufe der Hin-und-Her-Übersetzung verlustig gegangen ist, über vielerlei Kleinigkeiten bis zum Wesentlichen: die beiden Jungen, Bruno und Schlomo, unterhalten sich durch den Lagerzaun. Der Autor hätte ruhig bei Kogon nachlesen können (oder Kantor oder beliebig anderen): Der Zaun war elektrisch geladen und tödlich, eine Todeszone trennte Lager und Außenbereich. Den Zaun konnte man nicht mal eben anheben und durchkrabbeln, auch kein Kind. Ganz abgesehen von den in maximal 32 Meter entfernt drohenden Wachtürmen mit schussbereiten Maschinengewehren und ausgeschlafenen Wachmannschaften, die in einem solchen Fall kurzen Prozess gemacht hätten.
Dass ein Neunjähriger, der von allem Konkreten fern gehalten wird, nicht besonders schnell mitbekäme, in welcher Situation er sich hier befindet, ist schon richtig. Aber der Autor lässt derlei viel geschehen, bei dem auch ein Sechsjähriger mehr gemerkt hätte, so dass Bruno nicht ganz glaubhaft wirkt. Das Gleiche gilt auch für sein Gegenüber, den gleichaltrigen Schmuel. So naiv waren weder innerhalb noch außerhalb lebende Kinder. Neunjährige leben noch in ihrer Kinderwelt - die aber kann besonders durch die prekären Geschehnisse im Krieg und besonders in der unmittelbaren Umgebung eines KZs schnell aufgebrochen werden. Es sind ganz andere Geschichten bekannt, in denen derartige Kinder erwachsenenreife Erkenntnisse gewinnen und auch entsprechend entscheidungsreif sind. Die Verniedlichung durch die bis zuletzt bestehenden Hörfehler des Jungen (Furor/Führer - Aus-Wisch/ Auschwitz), die ähnlich jeder aus seiner Kindheit kennt, übertreiben die Infantilisierungsabsichten des Autors über Maßen.

Also bleibt die Frage nach dem Sinn dieser Erzählung. Es ist das Gedankenspiel, was eigentlich mit den Kindern der SS-Mannschaften passierte, die das Personal der KZ-Wächter stellten. Direkt neben dem KZ Ravensbrück ist heute noch die idyllische SS-Offizierssiedlung zu sehen, hübsche und adrette Häuschen inmitten einer schönen Grünanlage - und in Sicht- und Hörweite des KZs gelegen. Dort könnte und müsste sich derlei abgespielt haben. Auch wenn es unglaubwürdig ist, dass ein Schergenkind mit einem Häftlingskind jemals in Berührung kommt, kann man sich fragen, was wäre, wenn. Dann hätte eine solche Geschichte wie hier spielen können.

Aber es ist eine unglaubliche Vereinfachung. In nahezu allen Nach-KZ-Lagern wäre das möglich, nicht aber bei den Tötungsmaschinerien im Dritten Reich. Das unterscheidet eben doch die industriell betriebene Menschenvernichtung der Nazis von jeder anderen.

Selbst wenn man in Rechnung stellte, die KZ-Mörder würden begreiflich gemacht, stelle ich fest, dass das nicht so ist. Boyne beschreibt z.B. wie der Hauskellner des Kommandanten versagt und abgestraft wird. Bruno verschließt Auge und Mund; was vor seinen Augen geschieht, wird nicht beschrieben. Grauen kann man durchaus beschreiben, ohne zu genau zu werden. Und wenn Bruno gelernt hat, unangenehme Dinge nicht zu erwähnen, muss dass nicht für sein Leben fortbestehen. Mit neun oder fast zehn Jahren kann vielerlei die Augen öffnen. Hier bleibt es beim Nebulösen: “...keiner ... griff ein, um (den Oberleutnant) von dem abzuhalten, was er als Nächstes tat, auch wenn niemand dabei zusehen mochte. Auch wenn es Bruno zum Weinen brachte und Gretel (seine Schwester) erbleichen ließ.”
Das ist der Reduktion und der Leerstellen zu viel. Jedenfalls für kindliche Leser.

Hier entsteht ein Grundproblem der Kinder- & Jugendliteratur: Erzähle ich eine Geschichte von Neunjährigen für Gleichaltrige, sollte sie sich im Wahrnehmungsbereich dieser Altersklasse bewegen. Schreibe ich aber für Ältere, muss diese Geschichte für Ältere nachvollziehbar sein, dann kann ich nicht in der Sprache des Neunjährigen stecken bleiben. Das funktioniert erst wieder für Erwachsene oder erwachsen Denkende. Das Um-die-Ecke-Denken des vorliegenden Buches bleibt für einen Drittklässler unverständlich oder wenigstens nicht klar genug. Es wäre also besser gewesen, genauer zu beschreiben und nicht so eng an der Sichtweise des Jungen zu haften. Kirsten Boie schreibt dazu: Je jünger unsere Leser sind, je begrenzter ihre Lebens- und Leseerfahrung, desto expliziter müssen wir in unseren Büchern werden.

Dennoch bin ich der Meinung, dass dieses Buch jüngeren Lesern empfohlen werden sollte. Es kann Augen öffnen für eine Welt, die vielleicht noch nicht innerhalb des Erfahrungshorizontes liegt. Hier wird nicht mit Gewalt Geschichte vermittelt, die ist nur Hintergrund. Dem jungen Leser drängt sich das Angebot auf, nachzufragen und nachzulesen. Und dann sind Erwachsene gefordert als Gesprächspartner und als Literaturexperten, die Nachfolgeliteratur empfehlen können.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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