Mein Bruder heißt Jessica

Autor*in
Boyne, John
ISBN
978-3-7335-0640-7
Übersetzer*in
Zöfel, Adelheid
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
256
Verlag
FISCHER New Media
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Frankfurt am Main
Jahr
2020
Lesealter
14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Mein Bruder heißt Jessica“ lautet der Titel des von John Boyne neu erschienenen Jugendromans und setzt mit seinem regenbogenfarbenen Cover große Hoffnung in eine immer wiederkehrende Debatte über Transsexualität. Boyne, der in seinen Büchern über Kinder schreibt, die in irgendeiner Form isoliert sind, widmet sich einem brisanten Thema, das viel zu selten die nötige Beachtung bekommt, die es verdient. Besonders raffiniert ist, dass die Erzählperspektive eines Kindes gewählt wird, das nicht selbst von Transsexualität betroffen ist, sondern sein geliebter Bruder.

Beurteilungstext

Das Buch wird erzählt vom Ich-Erzähler Sam Waver, dessen großer Bruder Jason in einem Zeitraum von einem Schuljahr eine Verwandlung von einem Jungen zu einem Mädchen durchlebt. Das besonders innige Verhältnis der Brüder wird von Beginn der Handlung an deutlich. Sam schildert, wie sich sein Bruder aus Sorge bei seiner komplikationsreichen Geburt eine Narbe am Auge zuzog. Die Eltern, die alles andere als besorgt und liebevoll wirken, sind von Beginn an mit der Karriere der Mutter beschäftigt, die Ambitionen auf den Posten der britischen Premierministerin hat. Der Vater unterstützt sie nach Kräften als ihr Privatsekretär.
Jason ist ein beliebter, gutaussehender Junge, der großes Talent im Fußball hat und als Profi angefragt wird. Sam hingegen hat eine Leseschwäche und fühlt sich „oft unsichtbar“ (S. 36). Schnell kommt der Roman zu seiner eigentlichen Thematik: „Das mit meinem Bruder irgendwas nicht stimmt, wusste ich schon ungefähr anderthalb Jahre, bevor er uns sein Geheimnis offenbarte" (S. 21). Jason überbringt seiner Familie im ersten Kapitel die Nachricht: „Ich glaube, ich bin nicht dein Bruder. Ich glaube in Wirklichkeit bin ich deine Schwester.“ Nach dieser Nachricht gerät das Leben der Familie aus den Fugen. Sams „Erzfreind“ David Fugue, der gerade erst in die Nachbarschaft zieht, posaunt das Geheimnis seines Bruders in der Schule aus („Anscheinend hat Sams Bruder beschlossen, dass er lieber ein Mädchen sein will“, S. 56). Für Sam wird die Zeit nach der Bekanntgabe zusehends schwieriger, denn er wird Opfer von Ausgrenzung und Mobbing.
Die Eltern schweigen lange über das Gesagte und möchten auch nicht, dass ihr Sohn mit anderen darüber redet und reagieren mit absurden Vorschlägen, um das Thema so schnell wie möglich vom Tisch zu haben. Ihre äußerst unsensible und vulgäre Sprache („Und nimm gefälligst diesen lächerlichen Schal ab und frisier deine Haare nicht zu einem idiotischen Pferdeschwanz“, S. 71) zieht sich durch die gesamte Handlung. Im Interesse der beiden steht einzig und allein die politische Karriere von Deborah Waver, die um alles auf der Welt beschützt werden muss. Dabei gehen sie über Leichen („Aber vielleicht gibt es Tabletten. Oder Hypnose. Oder Elektroschocks“, S. 45) und hier deutet sich bereits die klischeehafte Familienkonstellation an. Sam, der bei den konstruierten Dialogen oft am Rand steht, verfällt ebenfalls in eine kindlich vulgäre Sprache („Du hast doch einen Pimmel“, S. 49). In seiner naiven Vorstellung bringt der Pferdeschwanz seines Bruders, der als Leitmotiv dient, Abhilfe, in dem er ihn nachts heimlich abschneidet, damit sich in der Schule niemand mehr über sie lustig macht.
Die Unsicherheit Sams zeigt sich am deutlichsten in den Gesprächen mit seinem Bruder, der verstehen möchte, was er denkt und fühlt. Er hat Angst sich eines Tages auch als Mädchen zu fühlen. Dabei bleiben die Dialoge oftmals hinter ihrem Potenzial zurück und zeigen nur in Ansätzen die emotionale Zerrissenheit der Brüder in ihrem Verhältnis zueinander.
Den ersten und letzten Versuch, dass Thema anzugehen, unternehmen die Eltern mit dem Besuch beim Psychologen Dr. Watson, bei dem sie das Thema als eine Art „Identitätskrise“ abtun. In einem Monolog äußert Jason das erste Mal seine Gefühle und Gedanken („Ich will verstehen, was los ist. Ich will herausfinden, wie das Ich sein kann, das ich in mir spüre“, S. 102) und bekommt vom Therapeuten Unterstützung. Die Sprache der Mutter wird sanfter („Aber er ist unser Sohn. Und ganz egal, wie wir das alles finden – wir möchten daran teilhaben, S. 106“), bricht jedoch, als sie Jasons Transsexualität damit vergleicht, dass man morgens aufwache und sich wie ein Känguru fühle.
Der Vater Alan Waver, gezeichnet als transphobe Figur ohne Tiefe, zeigt die gesamte Handlung über eine klischeehafte und stereotypische Meinung („Gibt es eventuell Antibiotika (...) eine Elektroschocktherapie (...) Wir sind für alles offen“, S. 111). Seine Meinung wird durchgehend überspitzt und holzschnittartig dargestellt.
Jason zieht sich immer weiter zurück und verbringt das Weihnachtsfest schließlich bei seiner Tante Rose in Oxford, der jüngeren Schwester der Mutter, die einen linksalternativen Lebensstil pflegt. Seine Mutter fühlt sich dadurch persönlich angegriffen, weil sie zu ihrer Schwester nie ein besonders gutes Verhältnis hatte, doch schließlich findet Jason bei ihr seine wahre Identität: Er wandelt sich zu Jessica. Während sich die Eltern in ihre Arbeit vergraben und beinahe so tun, als hätten sie nur einen Sohn, plant Sam ebenfalls seine Flucht zu der Tante.
Das rasch erzählte und vorausschaubare Ende mit seiner beachtlichen Zeitraffung zeigt, wie bei einem politischen Zweikampf der Mutter mit einem Parteikollegen die Wahrheit Jasons ans Licht kommt und die Mutter ihre Karriere dann doch zuliebe ihres Sohnes aufgeben möchte. Inmitten der Presse taucht plötzlich Jason auf, der seiner Mutter zuliebe Zugeständnisse macht, was dazu führt, dass die Mutter schließlich doch Premierministerin wird und Jason als Jessica in Zukunft das Leben führen kann, was sie immer schon wollte. Diese hohe Dichte der Ereignisse am Ende führt zu einer spannungsreichen Struktur. Die plötzliche Empathie der Eltern am Ende wirkt dabei jedoch unglaubwürdig und konstruiert.
Die wenig bildhafte Sprache weist einen hohen jugendsprachlichen Anteil auf („Proll“, „Klappe“, „schwul“). Es finden sich Fremdwörter aus dem politischen Bereich („Schattenkabinett“, „Fraktion“, „proaktiv“) wieder. Abwechslung bieten immer wieder auftauchende Listen, die humorvoll gestaltet sind wie „Acht Dinge, die ich meinem Erzfeind David Fugue wünsche“ (S. 42) oder „Zehn Dinge, die man über fünfunddreißig nicht mehr tun sollte“ (S. 169). Ebenfalls gibt es intertextuelle Bezüge zu Sherlock-Holmes und dem Buch „Der Mann mit der entstellten Lippe“. Die zum Teil vulgäre Wortwahl und der überwiegend parataktische Satzbau lässt sich für Kinder und Jugendliche gut rezipieren.
Die kritische Erzählhaltung Sams bleibt die gesamte Handlung über auf sprachlicher und gedanklicher Ebene in der internen Fokalisierung einer naiven und unsicheren Jungenfigur stecken. Der Roman, der sich stellenweise spannend liest, bleibt mit seinen eindimensionalen Figuren, seiner oberflächlichen Handlung und konstruierten Figurenkonstellation weit hinter einer herausragenden Geschichte in der Genderdebatte zurück. Ich würde es daher nur vorsichtig für Jugendliche ab 14 Jahren ohne Vorwissen empfehlen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Kajo; Landesstelle: Mecklenburg-Vorpommern.
Veröffentlicht am 12.07.2023

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