Das doppelte Lottchen. Ein Comic von Isabel Kreitz

Autor*in
Kästner, Erich
ISBN
978-3-7915-1171-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Kreitz, Isabel
Seitenanzahl
104
Verlag
Dressler
Gattung
Comic
Ort
Hamburg
Jahr
2016
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
19,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

"Da brat mir einer einen Storch!" Isabel Kreitz nimmt einen mit in die bunte, quirlige Welt der weltberühmten Zwillingsmädchen, dem "doppelten Lottchen" und schafft es, aus einem altbekannten Stoff eine neue, eigenständige Rezeptionserfahrung zu ermöglichen.

Beurteilungstext

Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom „doppelten Lottchen“? Seit der Ersterscheinung von Erich Kästners Jugendroman im Jahr 1949 hat sich die Verwechslungsgeschichte der beiden Zwillingsmädchen Lotte und Luise einen nicht mehr wegzudenkenden Platz im kollektiven Gedächtnis von Generationen von jungen Leserinnen und Lesern verschafft:
Die beiden identisch aussehenden Mädchen lernen sich zufällig in einem Sommerferienlager kennen und sorgen durch ihr Aussehen für ordentlich Wirbel. Vor allem der aufbrausenden Luise gefällt dies zunächst überhaupt nicht: Die Ferien „verhunze“ (S. 16) ihr ihre Doppelgängerin. Doch der erste Schreck ist bald vergessen und die beiden werden unzertrennlich und schnell fragt man im Ferienlager nur noch metonymisch nach „den Locken und den Zöpfen“. Wenn die beiden zusammenstecken, erzählen sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte und rasch wird das große Geheimnis gelüftet: Luise und Lotte sind Zwillingsschwestern, nach der Geburt und der offenkundigen Scheidung der Eltern getrennt. Ohne das Wissen um die andere ist Lotte in München bei der Mutter aufgewachsen und Luise beim Vater in Wien. Dem Geheimnis der Eltern auf die Schliche gekommen, beschließen die beiden kurzerhand, nach dem Sommer ihre Identität zu tauschen: Luise soll zur Mutter nach München und Lotte stattdessen zum Vater nach Wien. Gesagt getan. Über einen rege stattfindenden Briefwechsel zwischen den beiden Städten entwickeln die beiden schließlich den Plan, die Eltern und somit die bis dahin zerrüttete Familie wieder zusammenzuführen...

Soweit der Hergang des Kästner’schen Stoffs, dessen progressiven, modernen Charakter man vor allem im Hinblick auf seine gänzlich wertfreie Thematisierung von Scheidungskindern und alleinerziehenden, erwerbstätigen Müttern immer wieder gerne betont.

Mehr als ein Dutzend Mal, teilweise in verfremdeter Form und ohne überhaupt auf die literarische Vorlage zu verweisen, wurde die Erzählung bereits verfilmt. 1950 und damit nur ein Jahr nach der Romanveröffentlichung, erscheint die erste Verfilmung unter der Regie von Josef Báky. Die rasche Verfilmung ist nicht weiter verwunderlich, zieht man in Betracht, dass Kästner den Stoff ursprünglich filmisch gedacht hatte und bereits 1942 – noch inmitten des Zweiten Weltkrieges – mit der Idee eines Drehbuchs an Báky herangetreten war.
Die Adaption des Stoffs in das visuelle Genre der Graphic Novel, wie sie jetzt von Isabel Kreitz vorgelegt wurde, erscheint also mit Blick auf die Rezeptions- bzw. Verarbeitungsgeschichte des Romans schlüssig.

Isabel Kreitz, 1967 in Hamburg geboren, gehört zu Deutschlands etabliertesten Comiczeichnerinnen – 1997 und 2012 ausgezeichnet mit dem Max-und-Moritz-Preis zur besten deutschsprachigen Comickünstlerin. „Das doppelte Lottchen“ ist bereits ihre vierte Kästner-Adaption. Ihre Liebe zu dem Kinderbuchautor reicht bis in ihre eigene Kindheit zurück: „Einfach ihre Lieblingsbücher“ seien die Kästner-Romane gewesen, sagt sie in einem Interview für die Online-Zeitschrift schauinsblau.de. Schon früh kam sie so auch in Berührung mit der Bildästhetik Walter Triers, dem Illustrator, der die Einbände von „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ und Co. so eindrucksvoll bebildert hat.

Ebenso, wie die literarischen Welten von Kästner einen sichtbaren Eindruck auf Kreitz hinterließen, hinterließen auch die visuellen Bilderwelten von Film und Fernsehen deutliche Spuren im heutigen Werk der Künstlerin. Ein „Fernsehkind“ sei sie gewesen, „mit allen sicherlich gängigen pädagogischen Horrorszenarien“, beschreibt sie sich selbst in einem Porträt des Tagesspiegels (04.06.2012). Sie sei förmlich am Bildschirm geklebt, wann immer sich ihr die Möglichkeit bot.

Allerdings scheint Kreitz dieses „Horrorszenario“ für sich und ihr kreatives Schaffen positiv gewendet zu haben. Denn beides, sowohl die Rezeption der Kästner-Bücher mit ihrem farbenfrohen Bebilderungen Walter Triers, als auch der frühe Film- und Fernsehkonsum haben ihr Schaffen sichtlich und auf beeindruckende Weise geprägt.

Für „Das doppelte Lottchen“ bleibt Kreitz in der Bildästhetik ganz im Gestus Triers. Sowohl Farbgebung als auch Bild- und Zeichenstil der Figuren rufen gerade bei Leserinnen und Lesern älterer Jahrgänge Erinnerungen an die alten Kästner-Ausgaben wach. Auch bei der Sprache bleibt die Künstlerin ganz bei Kästner, indem sie die wörtliche Rede, also die im Roman bereits ausgearbeiteten Dialoge, Wort für Wort in die Sprechblasen transportiert. Neben den sprachlich dichten Passagen finden sich auch solche, die gänzlich ‚sprachlos’ und rein über die detailreiche Visualisierung ausgestaltet sind. Insbesondere in diesen Passagen wird Kreitz’ Inspiration durch das bewegte Bild deutlich. Die Einzelbilder, in der Genresprache „Panels“ genannt, scheinen sich geradezu filmszenisch aufzulösen.

Halten wir fest: Kreitz orientiert sich in ihrer Adaption stilistisch unübersehbar an der literarischen und in diesem Sinne auch an der filmischen Vorlage der 1940-50er Jahre – es lässt sich leicht vorstellen, dass Erich Kästner ihre Adaption ‚abgesegnet“ hätte. Haben wir es also lediglich mit einem ausdifferenzierten Storyboard eines Romans zu tun, der obendrein bereits zuhauf verfilmt wurde? Ist eine Graphic Novel des „doppelten Lottchens“ also obsolet, weil sie nichts Neues mehr birgt?

Ein solches Urteil würde dem Werk Kreitz’ und dem Genre der Graphic Novel bei weitem nicht gerecht werden.

Das Genre des Comics, in dessen grundlegender Tradition die Graphic Novel steht, hatte es in der Tat nicht immer leicht, sich gegen andere Textformate durchzusetzen und in seiner genuinen künstlerisch-literarischen Darstellungsform ernstgenommen zu werden. Doch in den letzten Jahrzehnten wurde dieses Image beachtlich aufpoliert. Spätestens mit Werken wie „Maus“ (1989) von Art Spiegelman und „Persepolis“ (2000) von Majane Satrapi wurde deutlich, dass Graphic Novels komplexe, epische und tiefgründige Geschichten erzählen können, ja, dass sie in der Lage sind, einen berechtigten Platz im Rang der Weltliteratur einzunehmen.

So fordert auch „Das doppelte Lottchen“ von seinen Leserinnen und Lesern die dem Genre eigene Rezeptionsleistung. Zwischen den einzelnen Panels muss sowohl auf einer bildlichen als auch auf einer sprachlichen Ebene ein narrativer Zusammenhang konstruiert werden: die Bilder müssen in eine zeitliche sowie räumliche Kohärenz gebracht werden, Nicht-Gezeigtes und Informationslücken müssen mit der eigenen Fantasie gefüllt werden, die Darstellungsweise der Bilder in ihrer wechselnden Perspektivierung erfasst und interpretiert werden. Kreitz gelingt diese komplexe Konstruktion auf höchst anrührende Art und Weise. So verfolgt der Leser beispielsweise über eine ganze ‚wortlose’ Seite hinweg die Ankunft Lottes im Ferienlager. Er wird richtiggehend zum stillen Beobachter dabei, wie das Mädchen in ihrem Zimmer allein vor dem Spiegel steht und sich selbst fragend anblickt (S. 16). Was geht ihr nach der ersten Begegnung mit der ihr so sehr ähnelnden, aber ihr gegenüber ausgesprochen unfreundlichen Luise wohl gerade durch den Kopf? An dieser Stelle wird bildästhetisch der Raum für das Imaginäre des Lesers geöffnet. In der unmittelbar darauffolgenden Sequenz findet ein abrupter Ortswechsel statt und man „hört“ Luise durch die Sprechblasen förmlich dabei zu, wie sie – vermutlich zeitgleich –, umringt von ihren Freundinnen, laut auf die Doppelgängerin schimpft (S. 16).

Gerade die Koordination und Interpretation des Geschriebenen und Gezeichneten, macht die Adaption des bekannten Stoffs zu einer spannenden und herausfordernden, vielstimmigen Rezeptionserfahrung. Es ist bewundernswert, mit welch einer offenkundigen Liebe zum Detail sich Isabel Kreitz in die Welt Erich Kästners und in die Figurenwelt der beiden Zwillingsmädchen hineinbegeben hat. So ist die „Comic“-Version vom „doppelten Lottchen“ ein lohnenswertes Leseerlebnis für alle Altersstufen – selbst für hartgesottene Liebhaber des legendären Kinderbuchautors, der diese wunderbare und nicht an Aktualität verlierende literarische Vorlage geliefert hat. In diesem Sinne: „Da brat mir einer einen Storch!“ (S. 13)


Quellen:
- http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/comic-kuenstlerin-isabel-kreitz-der-dachboden-als-geistiger-lebensraum/6709232.html (24.8.2016)
- https://web.archive.org/web/20090304025749/http://www.schauinsblau.de/isabelkreitz/bild_ton/comics-heute/ (28.8.2016)

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Diese Rezension wurde verfasst von eba; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 26.09.2016

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