Wie ein flammender Schrei

Autor*in
Wahl, Mats
ISBN
978-3-446-24640-9
Übersetzer*in
Kutsch, Angelika
Ori. Sprache
Schwedisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
204
Verlag
Hanser
Gattung
Ort
München
Jahr
2014
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

""1. Derbe Sprache, […] 5. Abwertende Kommentare zu Kleidung oder Leistung, […] 13. Sexuelle Belästigung, […] 20. Schutzgeldforderungen, […] 31. Wiederholte Misshandlung desselben Opfers"". Dies ist nur ein kleiner Auszug aus der 33 Punkte umfassenden Liste über die Zustände an der Brantingschule. Zustände, die man sich nicht vorstellen will und es doch muss - denn was passiert, wenn man die Augen verschließt, davon erzählt der Roman ""Wie ein flammender Schrei"" von Mats Wahl.

Beurteilungstext

Wenn man sich überwunde hat und das Buch ""Wie ein flammender Schrei"" von Mats Wahl trotz des in marktschreierischer Manier nach Aufmerksamkeit heischenden Covers zur Hand genommen hat, dann kann man nicht leugnen, dass man einen spannenden Roman zu lesen bekommt.

10 Tage werden erzählt. 10 ungeheuerliche Tage: Ellen ist neu an der Schule und das ist nie leicht. Aber die Situation an dieser Schule überschreitet alles, was man sich auszumalen erlaubt. Eine Gang von Jugendlichen terrorisiert die ganze Schulgemeinschaft in einer so brutalen und grenzenlosen Weise, dass sich keiner traut, ihr entschieden entgegenzutreten und Einhalt zu gebieten. Wegsehen, Vertuschen oder Schönreden sind die Umgangsweisen, die sich zum Schutz der je eigenen Sicherheit bewähren. Als Ellen einer Klassenkameradin zur Hilfe kommt, wird sie selber zum Opfer der Gewalt: sie wird gegrapscht und eingeschüchtert. Und dennoch öffnet sie sich der Rektorin und löst damit eine neue Runde der Gewalteskalation aus: die Jungen werden bestraft und schwören Rache.
Dass Ellen in diesem Schulklima der Abschottung und Angst einen Freund findet, ist segensreich. Die Freundschaft zu Max bringt nämlich eine zarte Wärme der Vertrautheit in die Kälte des Alltags. Und eine Theater-AG weckt die Hoffnung auf Abwechslung und die Möglichkeit, zumindest jemanden zu spielen, der man gerne sein will. Z.B. Antigone, ein Mädchen, das für die eigenen Überzeugungen kämpft und nicht nachgibt.

Der Autor dieses Romans, Mats Wahl, ist kein unbeschriebenes Blatt. Er zählt zu den großen skandinavischen Jugendbuchautoren und wurde mit zahlreichen renommierten Auszeichnungen geehrt, u.a. auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (für den Roman ""Winterbucht"") und dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher.

Und meisterhaft erzählt Wahl auch diese ungeschönte Geschichte, die kein Abbild der Realität zu sein beabsichtigt und dennoch realistisch und möglich erscheint und genau durch dieses Gefühl das Potential besitzt, den Leser zu erschüttern.
Meisterhaft ist das gekonnte Spiel mit der Informationsvergabe, das einem ein geschicktes Wissensgefälle von Erzähler und Leser ständig vor Augen führt und dadurch Spannung weckt. Dem Leser werden Informationshäppchen hingeworfen, die zwingend Erwartungen, Antizipationen und den Drang zur Bestätigung oder Modifikation derselben hervorrufen. Am Anfang oder Ende eines jeden, kurzen Kapitels, wird die Schraube der Informiertheit ein Stückchen weiter gedreht und wie bei einer Serie das Verlangen geweckt, weiterzulesen. Denn man weiß als Leser, dass es zur Katastrophe kommen wird: Der Roman hebt z.B. mit den Worten an: ""Zehn Tage später wird sie in einem Bett auf der Intensivstation in künstlichem Koma liegen"". (1) Vor diesem Wissenshintergrund steuert die Erzählung konstant und unaufhaltsam auf die Katastrophe zu. Geschickt und technisch meisterhaft, aber in seiner Wirkungsabsicht etwas zu offensichtlich.

Ebenfalls technisch meisterhaft vermittelt der heterodiegetische Erzähler in einer konsequenten Form der Nullfokalisierung unterschiedliche Perspektiven. (Der Erzähler ist keine Figur in der erzählten Welt und hat Einblick in die Gedanken und Gefühle aller Figuren.) Durch die sehr distanzierte Diktion, mit der der Erzähler Beobachtungen darstellt und Gefühle berichtet, tritt er hinter die Figuren zurück und als Leser erhält man nur einen Außenblick. Vieles bleibt dadurch in Andeutungen - aber nicht in der Form von Leer- oder Unbestimmtheitsstellen, die dazu anregen die subjektive Involviertheit zu erhöhen und stärkere Gefühle beim Leser auszulösen, als sie darzustellen möglich wären. Durch den Berichtstil wird man von den Perspektiven nicht eingesponnen, sondern nur über sie informiert. Das Potential, die emotionalen Extremsituationen hautnah miterleben zu können, geht dadurch leider verloren. Die Zwischenräume - die ureigenen Räume der Literatur - werden nicht nutzbar gemacht.

Dies wäre aber insofern wirklich wünschenswert, da die Figuren alle ihre je eigene Geschichte, ihren eigenen Rucksack an Erfahrungen, Problemen und Lebensherausforderungen mitbringen. Die Figuren sind keine Stereotypen, die nur eine einfache Funktion für ein übergeordnetes Ziel zu spielen bräuchten. Sie haben glaubhafte Individualität und entwickeln eigene Wege, um mit ihrem Schicksal umzugehen. Ellens Mutter kämpft mit einer Alkoholsucht, ihrer Beziehung zu ihrer Vergangenheit und insbesondere zu ihrem Vater. Ellen entwickelt in dieser Situation Verantwortungsgefühle, die einer Mutter-Tochter-Beziehung nicht angemessen sind. Max Mutter sieht in allem, was sie will. (Vorzüglich erkennt sie in allen Menschen eine Ähnlichkeit zu Filmstars.) Ihr Blick für die Sorgen ihres Sohnes Max können da leider nicht wahrgenommen werden. Die Rektorin der Brantingschule will ihren Eltern beweisen, dass sie zu gleichen Großtaten fähig ist, wie ihr Bruder, und Nicko und die Jungs seiner Gang sind vom Schicksal der Zukunftslosigkeit gezeichnet. Dieses Netz von (Wechsel-)Beziehungen bietet Raum für Einblicke in persönliche Abgründe, die der Erzählung gut getan hätte, um ihr einen größeren psychologischen Tiefgang zu ermöglichen.

Dies scheint aber nicht das Anliegen von Wahl zu sein. Man gewinnt schnell den Eindruck (und ein Nachwort des Autors bestätigt dies), dass es um die erzählerisch zugespitzte Darstellung eines gesellschaftlichen Missstandes geht. Nämlich um die Situation an den Schulen unserer Gesellschaft und um die Spirale von Gewalt und Hass, die sich dem unausweichlichen Ende zudreht, wenn sich alle Menschen aus Angst, selber Opfer zu werden, abwenden. Zustände, Folgen und Auswirkungen werden dargestellt - dass diese wachrütteln, ist unbestritten. Aber man kann sich nicht gegen das Gefühl wehren, das alles irgendwie schon zu kennen. Und der abschließende Seitenhieb auf die Politik und deren Bestreben alles als ""unglückliche Kombination aus unglücklichen Menschen und unglücklichen Umständen"" (191) abtun zu wollen, ist so offensichtlich, dass er an Schlagkraft einbüßt, wenngleich der Gegenstand der Kritik grotesk und wahr ist.

Man kann es nicht anders sagen: Dieser Roman ist eine für Jugendliche ab 13 Jahren mit allen Tricks erzählte Geschichte und ein Beispiel für eine gewandelte und nicht mehr holzschnittartige Problemliteratur. Aber trotzdem wirkt sie nicht lebendig und bleibt fad: es fehlt der BUMMS!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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