Tante Mel wird unsichtbar

Autor*in
Naoura, Salah
ISBN
978-3-423-71677-2
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Büchner, SaBine
Seitenanzahl
187
Verlag
dtv
Gattung
Ort
München
Jahr
2016
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
8,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Kann ein Kind den Tod verstehen? Wie, wenn schon wir Erwachsenen ihn lieber verdrängen oder dadurch in schwere Krisen stürzen? Eine kindgemäße Sicht, wie sie der Text darstellt, dass die von Lena geliebte Tante Mel unsichtbar wird, erscheint demgegenüber reizvoll. Sie behauptet gegenüber der Annullierung der Existenz die Integration der Nicht-Anwesenden in das eigene Leben. Ein Buch, das helfen kann, schwere Zeiten zu überstehen.

Beurteilungstext

Die Protagonistin Lena erlebt gerade schwierige Zeiten. Die Eltern haben sich getrennt und der Vater ist ausgezogen. Es ist fast so, als wäre er plötzlich verschwunden, weil ihre Mutter Doro den Kontakt lieber verhindern will. Zum Beispiel hält sie einen Brief zurück. Klar, die Mutter hat es als Verlassene nicht leicht. Auch die Arbeit in einem Blumengeschäft am Friedhof erfüllt sie nicht mehr. Und dann stirbt noch die verständnisvolle Tante Mel, Lenas Stimme in dieser konfliktbeladenen Beziehungsdebatte. Da sie – nach einem Schaukelsturz als Artistin im Zirkus – zuletzt als Hellseherin tätig war, konnte Lena mit ihr abends immer Gedankenbotschaften austauschen. Durch einen Autounfall ist sie jetzt unsichtbar und damit weniger präsent, mehr präteritum.
Der Zirkus ist in der Literatur stets ein Ort für außergewöhnliche Menschen und steht für eine besondere Weltsicht. Gegenüber dem geregelten Arbeitsleben seßhafter Staatsbürger werden Artisten als herumreisende Nomaden bunter nationaler Herkunft und mit schillernden Identitäten wahrgenommen. Frau Lapislazuli ist bspw. Schlangenbeschwörerin und geht nie ohne Boa auf dem Kopf außer Haus. Geradezu mit zauberhafter Leichtigkeit scheinen sie ihr Geld zu verdienen und das Leben zu meistern. Wegen seiner Andersartigkeit und seiner anachronistischen Elemente – der Junge Jojo wird als menschliche Spinne angekündigt, eine Mensch-Tier-Verschmelzung als Möglichkeit behauptet – ist der Zirkus ein Ort des Imaginären, an dem alles möglich scheint. Bezogen auf Lena spiegelt er zunächst auch die Unsicherheit wider, mit der sie in ihrem Leben konfrontiert ist. Es wird ihr Ort, an dem sie sich zu Hause fühlt und von dem sie sich aus neu (er-)finden kann. Außerdem erhält sie von dort aus Unterstützung bei dem Versuch, ihre Mutter vor dem Trickbetrüger Gino zu schützen. In diesen Passagen finden sich Elemente des Thrillers, bei dem es darum geht, ein Verbrechen zu verhindern. Insgesamt betrachtet fungiert der Zirkus als Medium, im doppelten Sinne verstehbar, bei der Ausbildung von Fähigkeiten, eigenständig Beziehungen in und außerhalb der Familie, egal ob tot oder lebendig, zu beginnen und zu gestalten. So nimmt sie selbst Kontakt zum Vater auf und muss die Information verdauen, dass er mit einer neuen Frau zusammenlebt und ihr eine kleine Schwester präsentiert. Nicht nur bei der Trennung der Eltern ist alles so, wie es scheint. Der Text präsentiert das Geschehen aus mehreren Perspektiven, wodurch sein fiktionaler Status in der Schwebe bleibt. Die Referenz auf das Zirkusmillieu lässt die Unsichtbarkeit der Tante – Artisten können alles – plausibel erscheinen. Die Wahrnehmung dieses Zustandes ist jedoch auf Lena und die nur noch gelegentlich im Hier-und-Jetzt weilende Großmutter Hilde beschränkt. Die Eltern, für Erwachsene in der phantastischen Literatur typisch, behaupten gegenüber der Gegenwärtigkeit des Jenseitigen eine rationale Weltsicht. Dadurch ergeben sich offene Stellen. So backen Lena und die unsichtbare Tante gemeinsam einen Mohnkuchen und werden durch die heimkehrende Mutter samt Gino unterbrochen. Auf dem Boden liegt nur noch Puderzucker. Hat Lena nur gespielt? Oder ist das gemeinsame Backvorhaben in einem frühen Stadium gestört worden? Die Realitätssicht scheint allerdings nicht unveränderlich. Wenn sie nur bereit sind, können Erwachsene das Unsichtbare ebenfalls wahrnehmen, einen lebendigen Kontakt mit Tante Mel aufbauen und erhalten. Dass der Text dieses Konzept im Umgang mit den Toten nicht in die eine oder andere Richtung vereindeutigt, regt zum Nachdenken an. Er schlägt eine (auch für Erwachsene) interessante Möglichkeit vor, anstelle der Verdrängung oder Fixierung auf den Tod, mit diesem zu leben.
(Thomas Bitterlich)

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von ThoBi; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 28.08.2016

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