So weit die Wolken ziehen

Autor*in
Fährmann, Willi
ISBN
978-3-401-06299-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
490
Verlag
Arena
Gattung
Ort
Würzburg
Jahr
2008
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
24,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

In den letzten Kriegstagen macht sich das in die österreichische Idylle ausgelagerte Mädchengymnasium aus Oberhausen auf den Rückweg in die Heimatstadt. Eine absurde Welt tut sich für den Leser des 21. Jahrhunderts auf: Isoliert von der Außenwelt haben die über 100 Mädchen gelebt und tauchen plötzlich in das von Chaos und Tod geprägte System der Massenflucht am Kriegsende des Jahres 1945 ein. Die Kinder wachsen mit den Anforderungen, aber 13 von ihnen müssen sterben.

Beurteilungstext

Erst nach und nach tun sich einige besonders absurde Details des 2. Weltkriegs auf. Fährmann beschreibt hier die Odyssee eines kompletten Mädchengymnasiums inclusive LehrerInnen durch das chaotisch zerfallende Deutsche Reich. Dabei charakterisiert er die Mädchen im Alter von 9 bis 16 Jahren als schnell erwachsener werdende Menschen, die sich und ihre Situation zunehmend besser in die Hand bekommen und in den erwachsenen Begleitern vorwiegend gute Freunde und Vorbilder sehen.
Fährmann ist vorsichtig mit der Beschreibung der Gräuel des Dritten Reiches, die Kinder lebten auf einer “Insel der Seeligkeit”, sie bekamen von nichts etwas mit. Ihre LehrerInnen sind zwar ideologisch der Naziideologie verhaftet, wirklich fanatisch aber ist keineR. Besonders weltfremd erscheint der Schulleiter und Organist Dr. Scholten (der zum Schulleiter erst auf der Flucht ernannt wird; die Bürokratie treibt seltsame Blüten), der gleichzeitig funktionierender Nazi und praktizierender Humanist ist, sich den Obrigkeitsforderungen nicht anpassen will und es dennoch immer wieder tut. Wirkliche Nazis, das was man heute darunter versteht, tauchen nur am Rande auf, in kurzen Episoden. Alle Hauptpersonen gehören mehr oder weniger zu der Kategorie der Deutschen, die vieles gehört und geahnt, aber “nichts gewusst” haben.
So ist dieser Roman eigentlich völlig unpolitisch. Eine ungewöhnlich große Rolle spielt die katholische Kirche: Die rheinischen Katholiken sind in das katholische Österreich gezogen und die Parteihörigen unter den Lehrerinnen versuchen vergeblich, die Mädchen von der Kirche des Dorfes fern zu halten. Die Pfarrer und Nonnen, die im Laufe der Handlung auftauchen, sind durchweg positive Figuren, von einer mindestens schweigenden Mitläuferschaft der katholischen Kirche, wie es der Nuntius in Berlin, der spätere Papst Pius, vormachte, ist hier nicht die Rede. Wohl aber erfahren die Mädchen, dass Behinderte, die von Nonnen betreut wurden, im Rahmen der Euthanasie ermordet wurden.
Auch die Verlogenheiten der Parteibonzen, die Mordkommandos der SS in den letzten Kriegsmomenten und anderes werden nicht verschwiegen. Aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Ideologie findet praktisch nicht statt. Eine Entnazifizierung der handelnden Personen wäre überflüssig gewesen.
Aber das ist doch genau das Problem: Die Deutschen haben sich darauf berufen, dass sie nichts gewusst haben. Sie haben nichts gewusst, weil sie nichts wissen wollten, sie haben die Informationen, die sie erreichten, nicht wahr genommen, selbst im Nachhinein nicht. Dass Kinder von den gesamten Negativerscheinungen des Nazismus fern gehalten werden konnten, ist nicht verwunderlich - Fährmann zeigt hier auch deutlich, an wie vielen Punkten den Mädchen während der Flucht die Wahrheit vor Augen geführt wird, wie sich ihnen das Grauen einer Welt öffnet, die sie vorher nie so wahrnehmen konnten.
Aber dass die erwachsenen Lehrerinnen, ob Parteimitglied oder nicht, keine wirklich kritische Sicht der Welt haben, finde ich problematisch. Die einzige uneingeschränkt positive Figur ist die Krankenschwester, die der Schule zugeteilt wurde und eine selbständige, unabhängige Frau ist, die mutig und mit klarem Blick ausgestattet gegen die größten Ungerechtigkeiten vorgeht, deswegen aber noch lange keine Antifaschistin ist.

So sehe ich in diesem Roman auch die Rechtfertigung der Deutschen, die “einfach nicht wussten, was passiert war”. Der Schritt zum “wenn das der Führer wüsste” ist nicht weit. Zu leicht fällt es meiner Ansicht nach, derlei Berichte als Rechtfertigung dafür zu benutzen, dass doch nicht alle Verbrecher gewesen wären. Natürlich waren nicht alle Verbrecher, aber sechs Millionen Juden wurden nicht von nur wenigen Menschen zusammengetrieben, transportiert, bewacht, ermordet. Justizmorde fanden in der Öffentlichkeit statt. Verfolgungen waren allgegenwärtig. Diskriminierungen alltäglich.
Das alles schränkt nicht die Wertschätzung derer ein, die verantwortungsbewusst und auch erfolgreich dafür sorgten, dass Mädchen wie diese Oberhausener den Krieg heil überstanden.

Fährmann schreibt spannend und selbst in Kleinigkeiten so empathisch, dass die Lektüre unbedingt schon deshalb empfehlenswert ist! Diese Empathie ist Kennzeichen des Autors. Keine der genauer beschriebenen Personen könnte per se als unsympathisch gelten. Wirkliche Antipathien kann der Leser nur gegen Personen entwickeln, die Fährmann nicht vollständig zeigt: die SS-Mörder, die nur indirekt und als mordend vorüberziehend beschrieben werden, ein Parteibonze, der sich keifend durch ein winziges Fenster zeigt. Wirkliche Menschen, solche, die man genauer kennen lernt, sind eben nie in Gänze unsympathisch; ein guter Kern steckt in Jedem.

Mir ist übrigens eine noch absurder erscheinende dreijährige Flucht eines berliner Mädchengymnasiums von Oberschlesien nach Berlin bekannt. Aber diese Geschichte müsste noch beschrieben werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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