Die Stunde der Lerche

Autor*in
Fährmann, Willi
ISBN
978-3-401-50213-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
335
Verlag
Arena
Gattung
Ort
Würzburg
Jahr
2010
Lesealter
14-15 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Nach dem 2. Weltkrieg, in den Jahren 1945/46, muss sich die Generation der Überlebenden neu sortieren, die Trümmer aufräumen und ihren Lebensinhalt neu definieren. Das ist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess. Die junge Ingenieurin Anna, die wegen “Rassenschande” im 3. Reich untertauchen musste, kann erst langsam beginnen, über ihr Trauma zu reden, neu Fuß zu fassen und findet erst Ruhe, als der Altnazi, der sie denunzierte, das Land verlässt.

Beurteilungstext

Der Leser muss sich erst daran gewöhnen, dass alle Protagonisten mit Vornamen genannt werden, sich auch so anreden, auch wenn sie grundsätzlich zu drei unterschiedlichen Generationen gehören. Aber das ist nur eine anfängliche Irritation. Dann breitet Fährmann die desolate Nachkriegssituation aus, jeder ist durch den Wahnsinnskrieg beschädigt, jeder muss sich in das neue Leben einfinden. Es gibt noch nicht genug zu essen, selbst die Lebensmittelmarken sichern nicht die Grundbedürfnisse. Wo nichts ist, kann auch nichts sortiert werden. Aber deutlich wird auch, dass das nur für die unteren Gesellschaftsschichten gilt. Bei den oberen herrscht zwar auch Mangel, nicht aber Hunger. Es gibt eben nicht alles, aber insgesamt genug, zumindest für die Privilegierten. Erst am Ende ist die Gesellschaft so weit neu sortiert, dass der beginnende Aufschwung sich schon abzeichnet. Der Weg dahin ist durch elementare Handelsweisen, Tauschhandel und Beziehungen, geprägt. Die Jungen suchen sich eine Existenzgrundlage und können noch nicht die Ausbildung machen, die ihnen vorschwebt (und ähneln insofern den Jugendlichen von heute), sondern müssen zu dem greifen, was sich ihnen bietet. Stefan würde gerne Förster werden und muss hören, dass durch den Verlust der Ostgebiete die geflüchteten Förster erst einmal für Jahrzehnte alle Stellen besetzen, und wird Maurerlehrling. Anna bekommt ihre Stelle als Ingenieurin wieder, in der völlig zerstörten Fabrik, die aber so nach und nach wieder aufgebaut wird, muss sich aber mit ihrer Parteivergangenheit auseinander setzen. Sie wird als Mitläuferin entnazifiziert, aber der Denunziant, der ihren Einsatz für die “Fremdarbeiter”, russische Kriegsgefangene in ihrer Fabrik, als “Rassenvergehen” anzeigte, droht ihr auch jetzt. Erst als Anna sich traut, das einem Mitarbeiter zu offenbaren, erkennt sie, dass das heute kein Straftatbestand mehr wäre; der Kollege wäscht dem Nazi den Kopf so nachhaltig - wie, erwähnt Fährmann nicht - , dass der Hals über Kopf das Land verlässt.
Anna ist die Hauptperson, an der Fährmann deutlich macht, wie schwierig es für die Nazigeneration ist, über ihre Vergangenheit zu reden. Obwohl Anna sich schon Anfang der 40er Jahre innerlich von den Nazis verabschiedet hat, verinnerlicht sie Verfolgung, Unrecht und Geheimniskrämerei immer noch so sehr, dass sie keinem Mitglied der großen Familie mitteilen mag, was sie bedrückt. Ob die Flucht ihres Gegners wirklich alle Probleme löst, bleibt fraglich.
Wie bunt die Familie zusammen gesetzt ist, wirft auch ein Licht auf die Nachkriegsgesellschaft: Waisen werden fraglos in der weitläufigen Familie an Kindes Statt aufgenommen, ferne Verwandte werden zu engen Familienmitgliedern, die Väter und Brüder sind noch in Kriegsgefangenschaft und kehren nach und nach heim. Im Einsatz gegen den Hunger werden Moralgrenzen und Gesetze zumindest vorübergehend ausgesetzt, ohne Schwarzhandel ist Überleben nicht möglich. Gemeinsam müssen sich alle gegen Diebstahl und Überfälle wappnen, die Kriegserfahrungen lassen auch grausame Reaktionen als beinahe verständlich erscheinen.
Und übrig bleibt die Grundsituation nach jedem nur denkbaren Krieg: Die gesamte Gesellschaft droht in der Anarchie zu versinken, wenn nicht alle gemeinsam versuchen, das zu verhindern. Die Diktatur davor sorgt eher dafür, dass die Übriggebliebenen diesen Schritt nicht schaffen.
Die nachfolgenden Generationen können nur lernen, wenn die Kriegsgeneration lernt, über ihre Erfahrungen zu reden.
Fährmann kann das sehr gut.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

Weitere Rezensionen zu Büchern von Fährmann, Willi

Fährmann, Willi

So weit die Wolken ziehen

Weiterlesen
Fährmann, Willi

Der Adler wollt hinauf zum Mond

Weiterlesen
Fährmann, Willi

Der mit den Fischen sprach

Weiterlesen
Fährmann, Willi

So weit die Wolken ziehen

Weiterlesen
Fährmann, Willi

Die Bienmann-Saga

Weiterlesen
Fährmann, Willi

König Artus und sein Zauberer

Weiterlesen