Bianca

Autor*in
Moeyaert, Bart
ISBN
978-3-446-26618-6
Übersetzer*in
Bach, Bettina
Ori. Sprache
Holländisch/Niederlä
Illustrator*in
Seitenanzahl
131
Verlag
Hanser
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2020
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
14,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Eine Lektüre für Jugendliche, die ihre eigenen Parameter zum Erwachsenwerden suchen und finden wollen.

Beurteilungstext

Bianca – ein adoleszentes Minenfeld und seine Gebrauchsanweisung

„Die Zeit rast“ ist nicht von ungefähr eine typische Erwachsenenphrase der westlichen Welt. Für Bianca, die pubertierende Protagonistin des Astrid-Lindgren-Memorial-Award-Preisträgers Bart Moeyaert, trifft das überhaupt nicht zu. Ein einziger Nachmittag ihres Lebens ist der Zeitrahmen des ganzen Buches und gleicht einer Achterbahnfahrt widersprüchlicher Gefühle: Zugehörigkeitssuche, Wut, Ausbruch, Alleinsein sowie Abschottung und Sehnsucht nach familiärer Gemeinsamkeit. Indem der Autor seine erzählte Zeit auf diesen einen Nachmittag konzentriert, verlangsamt er die Zeit der pubertierenden Protagonistin. Daraus entsteht ein beachtlicher Einblick in ihre Gefühlswelt, die von Behutsamkeit, Genauigkeit und besonderem Einfühlungsvermögen gekennzeichnet ist. Jede Information, jedes Ereignis um sie herum, jede Äußerung ihrer Mutter, jede tollkühne Aktion ihres herzkranken Bruders, die kleinen und großen Gesten der Ablehnung durch den Vater und dessen neue Freundin – selbst der Topf mit Sauerkirschen in der Küche evozieren neue Gedanken, Gefühle, müssen be- und verarbeitet werden und verlangen eine (Re)Aktion. Der Rückzug in kleine unsichtbare Räume ist dabei eine folgerichtige Handlung, welche das verdichtete und schnelllebige Wahrnehmen verarbeiten lässt. Immer wieder zieht sich Bianca in einen kleinen Zwischenraum zwischen ihrem und den Nachbarsgarten zurück und erhält dadurch einen Raum, der als Vakuum für adoleszente Ich-Suche, als Pause von der ständig notwendigen Ich-Behauptung genutzt werden kann: „So lange ich hier sitze, bin ich nirgends. Hier wird mich nie einer finden.“ (S. 19)
Moeyaert zeichnet Rückzug und Gefühlsachterbahn als folgerichtige Reaktionen und Weltaneignung seiner Protagonistin auf die familiären Anforderungen an sie, die mit der alleinerziehenden Mutter und ihrem aufmerksamkeitsintensiven jüngeren Bruder lebt. Dieser verständnisvolle und liebevolle Blick wird ergänzt durch die positive Rolle, die der Autor den Strategien der Protagonistin zuspricht, mit ihrer Pubertät „fertig zu werden“. Neben der Zeitverdichtung und dem Rückzug betrifft das besonders die „Flucht“ in das Leben und Handeln der Figuren einer Soap Opera. Diese Flucht ist jedoch kein Wegtauchen, sondern eine Flucht nach vorn, ein Frontalangriff auf die Hilflosigkeit und Ohnmacht der adoleszenten Figur und ihrer Probleme. Zu Besuch kommt an diesem Nachmittag eine Schauspielerin der Lieblingsfigur Biancas in ihrer Daily Soap – und diese Billy avanciert zum Sprachrohr, zur Folie, auf der Schritte der Identitätsfindung gemacht werden können. Ob Bianca der Mutter die Hilfe verweigert, Bewunderung und Anerkennung für eine Hilfe beim Servieren wünscht oder Verständnis für ihren zwiespältigen Umgang mit dem kranken Bruder braucht – die Figur-Schauspielerin scheint für alles Verständnis zu haben und die richtigen Stichworte zu liefern, um in den jeweiligen Situationen agieren zu können. Starke Abgänge, Lebensratschläge oder Haltungen und Gebärden gegenüber den Mitmenschen – die Parallelwelt der Billy ist kein Fliehen und Abtauchen aus dem adoleszenten Minenfeld, sondern eine Gebrauchsanweisung, um sich darin zu bewegen. Im Grunde ist diese Parallelwelt die Anweisung, welche sich die Mutter für Bianca selbst wünscht.
Und so werden aus negativ konnotierten adoleszenten Verhaltensweisen – dem Rückzug, der Parallelwelt und der Gefühlsachterbahn - Leitbalken, die sich die pubertierende Protagonistin selbst wählt, um ins Erwachsensein zu finden. In dieser Kulmination lässt sich die Preisvergabe des Astrid-Lindgren-Memorial-Awards besonders gut nachvollziehen – denn insgesamt zeichnet Moeyaert eine konzentrierte Verortungssuche in der Welt, deren Wegweiser sich das Kind und nicht der Erwachsene für das Kind gibt. Das ist keine Bullerbü-Welt mehr, wie bei Astrid Lindgren, im Gegenteil – der zum Rückzug gewählte Zwischenraum zwischen den Gärten wird am Ende des Tages sogar zerstört. Aber es ist eine Welt, in der Bianca allein und mit ihren Parametern den Weg in die Familie und zu sich findet. Oder sich zumindest am Ende des Tages wieder auf diesen Weg begibt. Bianca ist beileibe keine neue Ronja Räubertochter. Dafür unterscheiden sich die Familienbilder und ihre Welten viel zu sehr. Aber Biancas Zuversicht und ihr Mut, sich immer wieder neu auf die Herausforderung des Erwachsenwerdens einzulassen, transferiert Astrid Lindgrens Glauben an die Stärke der Kinder in die zerrissenen Familien der Gegenwart. Ist das nicht wunderschön?!
Astrid Henning-Mohr

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von AHM; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 27.11.2020

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