Wir waren Glückskinder - trotz allem. Eine deutschjüdische Familiengeschichte

Autor*in
Wolffsohn, Michael
ISBN
978-3-423-76331-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
236
Verlag
dtv
Gattung
Buch (gebunden)Sachliteratur
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,95 €
Bewertung
nicht empfehlenswert

Teaser

Eine jüdische Familiengeschichte vom Ende der Weimarer Republik bis in die Anfänge der 1960er Jahre der Bundesrepublik. Leider gespickt mit hochproblematischen Einordnungen.

Beurteilungstext

Der siebenjährige Enkel wollte mehr über Juden und Hitler wissen. Dieses Buch soll diesen Wunsch – vielleicht auch von anderen – erfüllen; so ist es im Vorwort als Anspruch benannt. Vom Verlag wird es ab 11 Jahren empfohlen. Mit den beiden Altersangaben wird eine große Spanne geöffnet. In dieser Rezension soll diskutiert werden, inwiefern das Buch diese Ansprüche (nicht) erfüllt und was das Buch (nicht) leisten kann.

Zum Inhalt
Wolffsohn erzählt familienbiografisch von seinen Eltern und Großeltern in der Zeit des Nationalsozialismus und der ersten Nachkriegsjahre. Wolffsohn selbst ist 1947 geboren, also zumeist nicht selbst Zeitzeuge, sondern er greift anscheinend auf Erzählungen aus der Familie zurück. Alle vier Großeltern waren Juden. Die Eltern der Mutter lebten in Bamberg, waren zwar nicht arm, aber auch nicht wohlhabend. Die Familie des Vaters lebte in Berlin und besaß mehrere Kinos, Theater und auch die Wohnanlage „Gartenstadt Atlantic“ in Berlin, war also wohlhabend. Chronologisch wird zunächst die Geschichte der Familie der Mutter, Thea, von der Kindheit in der Weimarer Republik und den Anfängen des Nationalsozialismus bis hin zur Ausreise nach Palästina im Jahr 1939 erzählt. Ähnlich wird anschließend mit der Geschichte der Familie von Vater Max verfahren. Dabei spielen zentrale politische Ereignisse wie die Machtergreifung, erste Übergriffe oder die Reichspogromnacht eine wichtige Rolle. Es folgen drei Kapitel, die zunächst die Zeit in Israel aufgreifen und auch erzählen, wie sich Wolffsohns Eltern finden. Die Zeit in Israel ist von Einschränkungen und eher mühsamen Jobs geprägt, aber es fällt auch die Geburt von Michael Wolffsohn in diese Jahre. Bedeutsam sind Begegnungen mit Juden aus aller Welt, aber auch Palästinenser:innen. Anschließend wird von der Rückkehr nach Deutschland in den 1950er Jahren erzählt, in denen vor allem Prozesse rund um die Rückgabe des von den Nazis enteigneten oder zu Spottpreisen erworbenen Eigentums bedeutsam sind, andererseits Begegnungen mit Menschen im Nachkriegsdeutschland. In einem kurzen letzten Kapitel wird auf Antisemitismus in der heutigen Zeit in Deutschland eingegangen.

Subjektivität? Objektivität?
In einer familienbiografischen Erzählung darf gern sehr subjektiv erzählt werden. Der Erzählstil entspricht dem dargestellten Erzählanlass: Den Enkeln die Zeit des Nationalsozialismus näherzubringen. Entsprechend ist der Sprachduktus mündlich geprägt, enthält aber oft einen sehr belehrenden Ton, etwa indem immer wieder vermeintlich unbekannte Gegenstände wie ein Rohrstock erklärt werden. Häufig sind es jedoch auch religiöse Begriffe, Feiertage wie koscheres Essen oder das Laubhüttenfest. Begleitet werden diese Ausführungen von Vergleichen zum Christentum oder einordnend-bewertenden Erklärungen. Auch zum Nationalsozialismus und führenden Nationalsozialisten gibt es ähnliche Einschätzungen, z. B. zu Joseph Goebbels:

„Für seine Propaganda hatte Hitler gleich zu Anfang und bis zum Ende einen teuflischen Mann eingestellt. Der hieß Joseph Goebbels. Wie Hitler wollte er, dass die Deutschen ihrem Führer in allem und in alles folgten. Der Schreihals namens Adolf Hitler, der beim Reden immer wild mit den Armen fuchtelte, sollte wie ein Gott verehrt werden. Immer wieder predigte Goebbels den Deutschen den Satz: „Führer befiehl, wir folgen dir!“ Mit diesem Satz wollte Goebbels den Deutschen Folgendes sagen: "Hört auf, selbst zu denken. Lasst euch lieber von Hitler lenken. Hängt euren Verstand an der Garderobe auf."
In solchen vermeintlich kindorientierten Versimplifizierungen stecken jedoch letztlich gefährliche Verharmlosungen des Nationalsozialismus. Immer wieder wird der Eindruck erweckt, als wenn eine relativ kleine Regierungsclique für die Gräuel des Nationalsozialismus verantwortlich wäre – und die breite Masse des Volkes von ihnen verführt wurde. Was man vielleicht in einem privaten Gespräch zwischen Großvater und Enkel:in durchgehen lassen könnte, ist jedoch hochproblematisch, wenn daraus ein veröffentlichtes Buch wird. Wolffsohn hatte eine Professur für neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München inne und hat viel zu Israel und der neueren deutsch-jüdischen Geschichte geforscht und wissenschaftlich veröffentlicht. Gerade vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, wie solche historischen Vereinfachungen des Nationalsozialismus in diesem Buch immer wieder Raum finden.
Hinzu kommt, dass die Adressierung des Buches problematisch ist. Wären es Kinder im Grundschulalter, mag die Verringerung der Komplexität als (misslungener) Versuch gelten, Geschehnisse altersgerecht zu verpacken. In diesem Fall wäre aber Umfang und letztlich auch der mit Belehrungen durchzogene Erzählduktus kaum für die Altersgruppe angemessen. Der Verlag empfiehlt das Buch ab 11 Jahren - ein Alter, in dem man Kindern und Jugendlichen durchaus mehr Differenzierung zutrauen und zumuten kann.
Schließlich sind auch Auslassungen bedeutsam. Von einem Historiker kann man erwarten, dass neuere Diskurse beachtet werden. Es fehlt jedoch jegliche Erwähnung, dass auch Sinti und Roma Opfer des Holocausts waren, in diesem Zusammenhang meist als Porajmos bezeichnet.
Vielleicht ist eines der Probleme dieses Buches, dass eben die Zeit des Nationalsozialismus hier nicht von einem Zeitzeugen erzählt wird, sondern auf Erzählungen aus seiner Familie über diese Zeit beruht. Ob dabei überhaupt auch ergänzende Archivrecherchen eine Rolle spielten, kann nicht nachvollzogen werden. Jedoch werden die Darstellungen aus Wolffssohns Kindheit - vor allem nach der Übersiedlung nach Deutschland - wesentlich anschaulicher und wirken auch authentischer.
Schade, dass hier ein so wichtiges Thema aus einer eigentlich wirklich interessanten Perspektive so dermaßen schlecht verarbeitet wird.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Christoph Jantzen; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 15.03.2022

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