Waggon vierter Klasse: Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit

Autor*in
Domes, Robert
ISBN
978-3-570-31352-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
348
Verlag
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
10,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

„Ich bin begraben. Sand und Kalk rieseln in meinen Mund. Das Heulen der Granaten hallt immer noch als Echo durch die Grüfte. Ich kämpfe mich mit blutenden Händen durch Schuttberge, die Haare kleben an meinem Gesicht. Rudernd wie eine Ertrinkende wache ich auf“ (S. 13)

Beurteilungstext

Dies ist ein Traum, den die sechzehnjährige Martha immer wieder träumt und der doch so real war: Gemeinsam mit ihrer Familie ist sie vor den Bombenangriffen aus Königsberg geflüchtet. Nun ist es ihre erste Nacht in ihrem neuen „Zuhause“ – einem alten Eisenbahnwaggon, am Rande des Ortes Obergünzburg im Allgäu. In diesem Eisenbahnwaggon findet Martha ein paar Wochen später eine Schachtel, darin sind kleine Gegenstände, ein Ring und eine Postkarte. Der frühere Bewohner des Waggons muss sie dort hinterlassen haben. Marthas Neugier ist geweckt und sie beginnt, Nachforschungen anzustellen zu diesem Mann. Sein Name: Alois Roth. Er ist in der Nazizeit spurlos verschwunden. Was war er für ein Mensch? Warum lebte er hier so einsam in einem kargen ausgedienten Waggon, wie auf dem Abstellgleis? Und warum will niemand im Ort ihr auf diese Fragen eine Antwort geben?
Nach dem erfolgreich verfilmten Buch „Nebel im August“ veröffentlicht Journalist und Schriftsteller Robert Domes mit „Waggon vierter Klasse“ erneut einen bewegenden Roman, welcher durch die Sicht fiktiver jugendlicher Protagonisten einen Einblick in die reale Geschichte der Grausamkeiten der NS-Zeit in Deutschland gewährt. „Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit“ lautet der Untertitel des Jugendromans, der eingebettet in ein einordnendes Vorwort und Nachwort den Erlebnissen des fiktiven Flüchtlingsmädchens Martha folgt. Martha ist es, die sich auf diese titelgebende Spurensuche nach der realen Person Alois Roth begibt und uns dabei mitnimmt.
Es ist eine weit greifende Geschichte, die Robert Domes in „Waggon vierter Klasse“ erzählt und die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Dass sie uns trotzdem dauerhaft fesselt, das liegt vor allem an dem starken, im Präsens gehaltenen Erzählduktus. Gekonnt wechselt Domes zwischen zwei Perspektiven, abwechselnd berichten Martha und Alois. Immer tiefer lässt der Autor Martha eintauchen in Alois´ Geschichte und kontert ihre Erzählabschnitte mit den jeweiligen Kapiteln aus Alois´ Sicht. Wie unter einem Brennglas beleuchtet Domes die ausschlaggebenden Stationen seines Lebens, die er aus Berichten der Dorfbewohner, Briefen, Protokollen und Häftlingslisten rekonstruiert hat: Von dem Jahr 1900 an, als er sich als rebellischer Sechsjähriger gegen seinen großen Bruder und die Strenge seines Vaters durchsetzen muss – bis hin zum 22. März 1945, dem Tag seines Todes im KZ Mauthausen. Alois war, so finden wir gemeinsam mit Martha nach und nach heraus, ein Sonderling. Er arbeitet wenig, trinkt viel und kommt immer mal wieder wegen kleinerer Vergehen mit dem Gesetz in Konflikt. Im Ort kennt man ihn, mag ihn auch irgendwie, toleriert seine Eigenarten. Doch dann kommen die Nazis an die Macht, unter denen er immer mehr ins Abseits gedrängt wird und für die er als Herumtreiber, Arbeitsscheuer, als „Asozialer“ und „Volksschädling“ gilt. Unter dieser Anklage wird er verhaftet und nach Auschwitz gebracht. Martha kratzt mit ihren Nachfragen die Wundes des Dorfes wieder auf: Warum hat niemand Alois in Schutz genommen? Mit losem Mundwerk hat er oft rausposaunt, was Viele dachten aber nicht laut zu sagen wagten. Hat man ihn als Bauernopfer vorgeschoben? Oder ist er, der doch der Welt nichts Böses wollte, zu Recht verurteilt worden?
Die Thematisierung solcher Fragen fußt auf dem politisch hochaktuellen Hintergrund des Romans, auf den auch in vielen Pressestimmen zum Buch hingewiesen wird: Erst am 13. Februar 2020, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurden die vom NS-System als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten vom Deutschen Bundestag offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Diese Aktualität und die Tatsache, dass „(D)er Roman (…) auf wahren Begebenheiten und gründlicher Recherche (beruht)“, trägt nur noch weiter dazu bei, dass hier eine klare Empfehlung vor allem als Klassenlektüre für Schüler*innen ab 14 Jahren ausgesprochen werden muss. Der Roman ist eine gelungene literarische Aufarbeitung eines bisher unbeleuchteten Themas der NS-Zeit, dessen Opfern ein „angemessene(r) Platz in der Erinnerungskultur“ verschafft werden muss. Gleichzeitig schafft Robert Domes mit der Figur der Martha auch eine Verbindung zu dem Erleben Geflüchteter, das ebenso oft bestimmt ist von Vorurteilen, Ausgrenzung und dem Wunsch, dazu zu gehören – damals wie heute.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von SJ; Landesstelle: Thüringen.
Veröffentlicht am 01.04.2022

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