Marcolini oder Wie man Günstling wird

Autor*in
Schneider, Karla
ISBN
978-3-446-20905-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
415
Verlag
Hanser
Gattung
Ort
München
Jahr
2007
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
17,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Marcolini ist ein junger Page am Sächsischen Hofe des Jahres 1763. Obwohl er selbst Conte ist, muss er etliche Jahre am angesehenen Hofe als Silberpage dienen, ehe sich ihm die Chance bietet, aufzusteigen. Aus der völlig unkritischen Sicht des Jungen werden dem Leser unglaubliche Arbeitsbedingungen, ein tiefer Einblick in die Usancen zu Hofe und die menschlichen Schwächen der königlichen Familie nahe gebracht. Die totale Anpassung des kleinen Marcolini eröffnet ihm alle Chancen.

Beurteilungstext

Die Bilder der Mozart ähnlichen Pagen sind uns bekannt, dieses uniformierte tadellose Aussehen (und nach außen auch das Verhalten) erkauft sich sehr mühsam, dies beschreibt die Autorin in diesem kurzweiligen Roman ausführlich. Hygiene war noch nicht erfunden - für die Jugend des 21. Jahrhunderts ist dergleichen völlig unvorstellbar. Aber was das wirklich bedeutet in einer Zeit, in der fingerdick gepudert wurde, eigene Haare praktisch nie gewaschen, dafür aber unter einer Perücke versteckt wurden, alles zusammen dick in einer eigens dafür eingerichteten Puderkammer eingepudert, das erlebt der Leser hier mit - mir fingen prompt die Haare an zu jucken. Arbeitsbedingungen herrschten in reiner Anarchie - oder besser: rein abhängig von zufälliger Weise gewährter Gunst. Oder eben keiner. Es gab keine Regelungen von Arbeitszeit, keine von Bedingungen. Allgegenwärtig ist für die Jungen, die in einem großen Schlafsaal zusammen lebten, der immerwährende Hunger. Sie mussten steif an der Wand stehen, wenn diniert wurde, durften servieren - aber nicht essen. Man erwartete einfach von ihnen, dass sie sich so benahmen, dass man ihrer nicht Gewahr wurde. Das musste natürlich zu Auswüchsen führen: Die Taschen ihrer Röcke waren mit Wachstuch ausgeschlagen, so dass sie sich klammheimlich bedienen konnten; unter den Augen des Hofes essen durften sie deswegen noch lange nicht. Noch nicht einmal zum Pinkeln durften sie sich entfernen. Aber Jungs sind findig, es geht auch anders als erwartet.
Von Mädchen ist weniger die Rede, weil die Jungs keinerlei Kontakt pflegen konnten. Natürlich gab es auch hier findige Auswege. Wurde aber eine Kammerzofe schwanger, wurde sie ohne Federlesens entlassen, eine Versorgungsverantwortung existierte für keinen.
Für Marcolini eröffnet sich die Chance seines Lebens, als August III. stirbt: er wird Kammerpage des minderjährigen Thronerben. Die beiden freunden sich - innerhalb der gesellschaftlich möglichen Gegebenheiten - an und der junge Prinz beginnt unter der Anleitung des quirligen Pagen zu leben, bislang galt er als der Tumbe, Langsame, Unfähige.

Der ganze Roman bleibt aus der Sicht des jungen Italieners geschrieben: angepasst, Karriere bewusst, zielstrebig und ängstlich bedacht, keine Fehler zu begehen, keine eigene Meinung zu äußern. Der Autorin gelingt das Kunststück, diese Haltung nicht zu verraten und dennoch dem Leser die Unsäglichkeiten sowohl des opportunistischen Lebens als auch der äußeren Bedingungen deutlich zu machen - und das alles in einer lebendigen und spannenden Handlung.
Die Intrigen des Hofes werden ebenso Bestandteil der Handlung wie das vergebliche Werben Marcolinis um eine hübsche Britin, die auch nicht abgeneigt wäre - aber die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Sprachlich nähert die Autorin sich der barocken Weitschweifigkeit, viele Sätze sind für heutige Verhältnisse ungewohnt lang und verschachtelt. Dabei verlieren sie aber nicht an Verständlichkeit, vielmehr nähern sie sich dem Gefühl der Zeit des 18. Jahrhunderts. Gleichwohl ist diese Sprache für Leseungewohnte wohl zu schwierig - aber die würden auch kaum zu einem so dicken Wälzer greifen.

Die Beschreibung der Arbeitssituation wäre einen Preis wert, wenn wir nicht die Bedingungen des Heinrich-Wolgast-Preises zu Grunde legen würden: Und um irgendeine Arbeitswelt geht es hier nun wirklich nicht. Es ist eine Hofberichterstattung, und die hat mit dem Wolgast-Preis nichts zu tun, auch wenn die Sicht fast die von unten ist: der Blick der Helden bleibt aber eindeutig nach oben gerichtet, auf das angehimmelte Blendende des barocken Sächsischen Hofes. Für das niedere Volk der Arbeiter hätte ein Marcolini kein Augenblinzeln übrig gehabt, außer sie könnten ihm von Nutzen sein.

Aber spannend zu lesen und vor allem: mit Gewinn zu lesen ist dieses Buch allemal.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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