Linkslesestärke oder die Sache mit den Borten und Wuchstaben
- Autor*in
- Janotta, Anja
- ISBN
- 978-3-570-16339-9
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- Jeschke, Stefanie
- Seitenanzahl
- 235
- Verlag
- –
- Gattung
- –
- Ort
- München
- Jahr
- 2015
- Lesealter
- 6-7 Jahre8-9 Jahre10-11 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- Bücherei
- Preis
- 12,99 €
- Bewertung
Schlagwörter
Teaser
Mira kann sich Dinge nicht merken, wenn sie keinen Sinn ergeben. Zum Beispiel Namen anderer Kinder. Sie merkt sich aber, wer das ist. Das Mädchen aus ihrer Klasse fängt mit Z an, das geht ja noch. Aber der Rest haut immer wieder ab. So merkt sie sich eben die Z...icke mit den Z...öpfen. So geht es viel besser. Mira hat eine Rechtschreibschwäche.
Beurteilungstext
Mira hat nur einen Freund, noch aus Krabbeltagen. Der erklärt ihr immer wieder geduldig, was andere Kinder in ihr sehen, benennt auch Fehler, bietet Hilfe an. Seinen Namen kann sie sich irgendwann verflixt noch eins merken: Felix selbst bietet ihr diese Gedankenbrücke an und akzeptiert bei ihr den Kosenamen "Verfelixt". Er kennt Miras Schwäche, weiß aber auch, dass sie mehr als andere über Wörter und Buchstaben nachdenkt. So findet er im Spiel immer wieder Brücken zu ihr. Auch ihre neue Fähigkeit: die Links-Lese-Stärke.
Und dann zieht ein neues Mädchen in die Nachbarschaft: ihre zukünftige beste Freundin. Doch beide haben einen schweren Weg vor sich, der beiden viel abverlangt, bevor Mira sich Svenjas Namen merkt.
Die Neue (irgendwas mit S wie s...augute Freundin) ist gleich der Schwarm aller Schüler. Sie wird umworben, mit Beschlag belegt, hofiert. Das alles ist ihr oft unangenehm, aber nicht gleich zu ändern. Mira hingegen erlebt in der Schule den Alptraum pur. Mit ihrer LRS hat sie ein deutlich sichtbares Defizit, auf dem Schulhof leider auch Lehrerinnen, die sich nicht wirklich interessieren, in ihrer Klasse die typische Mischung einer Schulklasse: die Schreihälse, die Fiese, die Anstreberin, die Schüchterne, die Zicke und viele Mitläufer und Wegschauer.
Ständiges Versagen in Leistungstests, Ausgrenzung, ungezählte Schikanen, Mobbing, ungerechte Bestrafung, Erpressung durch eine Mitschülerin machen sie sehr wütend. Sie sieht nicht, dass es auch Menschen gibt, die ihr helfen können und wollen, nimmt Angebote aus Trotz, Stolz, Angst oder Wut nicht an und explodiert, wenn der Druck zu groß wird. Und dann beginnt die Spirale von vorn.
Es dauert lange, bis der Leidensdruck unerträglich wird und sie zusammenbricht. Bis ihre Freunde den Mut haben, sich an ihre Seite zu stellen. Aber dann ist Mira überrascht, wie viel Hilfe sie schnell und konsequent bekommt, wo sie nie damit gerechnet hatte. Nicht alles wurde übersehen, was sie verbergen wollte. Nicht jeder war so blind und nichtsahnend, wie sie glaubte. Und nicht alle sind so ungerecht, in ihr einen bequemen Prügelknaben zu sehen.
Es bedarf schon einer guten Portion Phantasie und Einfühlungsvermögen, um die ersten Wortbilder-Bildwörter zu entziffern. Denn dieses geniale Buch beginnt bereits vor dem Anfang mit anspruchsvollem Lesematerial, wie es nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten verstehen können. Die Rätsel in der Art eines Rebus zeichnen sich nämlich durch so unsinnig-sinnvolle Falschschreibung aus, dass sie schon wieder außergewöhnlich, weil bildmalend sind. So also kann es sich für einen Menschen mit LRS anfühlen, wenn er unsere "normale" Schriftsprache liest.
Der Autorin ist hier ein echtes Sprachkunststück in 18 Kapiteln gelungen. Schade nur, dass dem Lektorat ein blöder Grammatikfehler durch die Lappen gegangen ist, der leider auch im Alltagsdeutsch immer häufiger auftaucht: auf Seite 208 heißt es "Svenja war bis jetzt nur dumm dabeigestanden, . . ". Vielleicht lässt sich das in den hoffentlich zahlreichen Nachauflagen verbessern.
Am tiefgreifendsten ist die Erzählperspektive. Die konsequente Beschränkung auf die Sicht der Ich-Erzählerin macht die Erzählung so authentisch, so aufrüttelnd und nah. Man kann sich den Sorgen und Nöten der Drittklässlerin kaum entziehen, leidet mit, freut sich mit. Und vor allem denkt man mit ihr über Sprache nach, über unzählige Wortbilder, die vielen so selbstverständlich erscheinen, ihr als "Buchstaben-All-Leer-Kicker" aber immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.
Anja Janotte hat ein sehr gutes, sehr wichtiges, sehr einfühlsames Buch geschrieben. Wollen wir hoffen, dass ihre Tochter, die die Inspiration zu dem Buch war, nicht ähnlich schlimme Erfahrungen machen musste.
Zu Recht erhielt das Buch unseren Lesepeter. Jeder (Grund-/ Förderschul-) Lehrer sollte es lesen. Um mal wieder "die andere Seite" zu spüren.