Ihr sollt (nicht) schweigen

Autor*in
McCauley, Kyrie
ISBN
978-3-423-74102-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe-Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
352
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2023
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein 16-jähriges Mädchen: erschossen in der Highschool. Der jugendliche Täter: Selbstmord am selben Ort. Die erwachsene Umgebung: mitleidige Untätigkeit. Die Kleinstadt: abhängig von der den Ort beherrschenden Waffenfabrik und ihrem Besitzer. Die beiden Freundinnen: tieftraurig schwankend zwischen Verzweiflung und Selbstaufgabe. Und dann die Wut: Energie, Kraft und Mut spendend.

Beurteilungstext

Cassandra, genannt Cassie, wird von ihrem Ex-Freund aus Eifersucht und Herrschsucht im Klassenraum der Highschool, die beide besuchen, erschossen. Vivian, neben Beck Cassies beste Freundin, wird durch eine Kugel am Oberschenkel verletzt. Beck hatte sich kurz vorher unerlaubterweise vom Schulgelände entfernt.

Das Bild, das die wichtigsten Persönlichkeiten des nordamerikanischen Städtchens Bell in den Köpfen ihrer Bürger verankert wissen wollen, ist das einer amerikanischen Kleinstadttragödie. Nicht schön, aber hinnehmbar, bedauerlicherweise fast gewöhnlich. Schließlich ist der Mörder Nico der Sohn der Familie Bell, die seit über 100 Jahren mit ihrer gutgehenden Waffenfabrik dafür sorgt, dass die Bürger der Stadt in Lohn und Arbeit sind. Die Bells haben dem Städtchen seinen Namen gegeben. Eine Rufschädigung der Familie könnte unangenehme Auswirkungen auf das Geschäft mit Waffen und den Wohlstand vieler Bürger haben. Dahinter sollte das Schicksal des unbedeutenden Mädchens Cassie zurückzutreten.

Beck und Vivian jedoch merken, dass sie aus ihrer Resignation und Traurigkeit nicht herauskommen, wenn sie nichts unternehmen. Angetrieben von einer plötzlich aufkeimenden Wut, der sie sich zunächst gar nicht bewusst sind, sorgen sie durch waghalsige Aktionen dafür, dass Cassie nicht vergessen wird: Verwandelt in starke Heldinnen der griechischen Mythologie, wird Cassies Gesicht auf öffentliche Flächen gesprüht und im Internet, versehen mit kritischen Botschaften, verbreitet.

Der zunehmenden Gefahr, erwischt zu werden, begegnen die beiden mit der Vertiefung ihrer zunächst brüchigen Freundschaft. Unterstützung und Ansporn von unerwarteter Seite geben Vivian und Beck die nötige Kraft, ihr Ziel letztlich zu erreichen, Gerechtigkeit herzustellen, indem sie den Kampf mit einer der mächtigsten Familien landesweit aufnehmen. So hilft eine junge Radioreporterin u. a. durch kritische Sendungen, die die Hintergründe von Cassies Tod aufklären und auf die politische Brisanz der Waffenlobby in den USA hinweist. Becks heißgeliebter Großvater steht voll auf ihrer Seite, auch wenn er sie warnt. Matteo, Vivians Freund aus Kindertagen, lässt sich auf aktive Teilnahme ein. Und sogar die Besitzerin des Ladens für Farben hilft Beck, sich vor Verfolgung zu schützen. Eine Sympathiekundgebung vieler Bürger schließt sich den Forderungen nach veränderten Waffengesetzen an.

Die größte Hilfe jedoch ist Cassie selbst. Ist sie wirklich tot? Als Schatten erscheint sie zunächst in Becks Auto, wird aber immer weniger durchsichtig, materieller, sozusagen lebendiger, bis sie zum Schluss sogar in der Lage ist, Becks Auto zu fahren. Sie ist es, die ihre beiden lebenden Freundinnen zusammenschweißt, die die Wut und den Wunsch nach Vergeltung schürt, und die Beck und Vivian bei all ihren Aktionen begleitet.

Nach und nach offenbart Cassie ihren Freundinnen, was zwischen ihr und Nico wirklich geschehen ist. Aus Scham und Schuldgefühlen hatte sie geschwiegen: Über Nicos Besitzanspruch und Gewalt. Über die Drohungen seines Vaters, um eine Anzeige Cassies zu verhindern. Über ihre vergeblichen Versuche, eine Kontaktsperre zu bewirken. Und nicht zuletzt über ihre Angst vor dem Sohn des mächtigsten Mannes der Stadt, der meinte, alles, was er haben wolle, stünde ihm auch zu.

Cassies Schweigen missdeutet zu haben, ihr sichtbares Leiden wahrgenommen, aber nicht ernst genommen zu haben, lastet schwer auf Vivian und Beck. Das Wissen, dass sie beide erst wieder ihr eigenes Leben leben können, wenn sie ihrer toten Freundin Gerechtigkeit und damit Frieden verschafft haben, eröffnet ihnen neue Erkenntnisse, die die Autorin auf diese Weise an ihre Leser*innen transportiert: Mädchen und Frauen müssen sich in einer von Männern geprägten Welt schützen, sich wehren und selbst für Gerechtigkeit sorgen. Wut ist erlaubt und gibt Kraft. Letztendlich erreichen Beck und Cassie mit ihren originellen Aktionen via Internet eine weit über ihr Umfeld hinausgehende Sympathie und Wirkung, die Cassies Tod nicht allein als ein individuelles Schicksal begreifen, sondern als ein tiefer gehendes gesellschaftliches Problem, das grundsätzlich alle Mädchen treffen kann.

Wie tief dieses gesellschaftliche Problem männlichen Besitzanspruchs und der Machtgier gegenüber den Frauen und Mädchen geht, wird in diesem Roman durch den symbolhaften Rückgriff auf die Heldinnen der griechischen Mythologie gezeigt. Deren Kampf führen Beck, Vivian und Cassie fort: moderne Heldinnen. Cassie, oder ihr Geist, könnte als Verbindung zwischen den Heldinnen der Antike und der heutigen Zeit verstanden werden. Sie klärt auf, schafft Verbindung, stellt Forderungen, schwebt über den Dingen und verlässt die Opferrolle. Ob ihr Geist, der nur für ihre Freundinnen sichtbar ist, lediglich in deren Einbildung existiert oder real ist, sei dahingestellt. Jedes der drei Mädchen bekommt in dieser Geschichte abwechselnd eine eigene Perspektive, von der aus die Erzählung weiterentwickelt wird. Die freundschaftliche Bindung der drei Mädchen erhält eine neue, rührende, emotionale Qualität. Cassies Part ist ein besonderer: Ihre Erzählung erinnert stilistisch ein wenig an ein homerisches Heldenepos, mit dem sie die Handlungen ihrer Freundin begleitet. Kassandra, die Seherin, der niemand glauben wollte …

Gestaltung und Struktur der Erzählung unterstreichen ihre Botschaften. Cassies „Epos“ erscheint kursiv gedruckt in der äußeren Form eines Gedichts. Großformatig werden die Wandbilder zu Anfang der Kapitel angedeutet und schaffen Orientierung. Die Radiointerviews der Reporterin sind geschickt in den Gang der Handlung montiert und geben der Geschichte ihre gesellschaftliche Dimension. - Ein Buch für Jugendliche und auch Erwachsene, die sich mit dieser Problematik noch nicht ausreichend beschäftigt haben. Also für wen nicht?

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Susanne Hoffmann; Landesstelle: Niedersachsen.
Veröffentlicht am 10.12.2023

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