Die Stille nach Nina Simone

Autor*in
Fretheim, Tor
ISBN
978-3-95854-031-6
Übersetzer*in
Dörries, Maike
Ori. Sprache
Norwegisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
123
Verlag
Mixtvision
Gattung
Ort
München
Jahr
2015
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Simon dachte immer, er lebe in einer "ganz normalen Familie". Jetzt, mit 18 Jahren, ist er allein auf sich gestellt. Die Mutter ist tot, der Vater im Gefängnis. Simon begreift, dass es in seiner Familie eine gefährliche Spirale aus Gewalt und Schweigen gegeben hat. Rückblickend erzählt er die Geschichte seiner Familie, fragmentarisch fast, fragend und Erklärungen suchend, während er sie gleichzeitig erst zu begreifen beginnt - soweit dies überhaupt möglich ist.

Beurteilungstext

Dieses Buch von Tor Fretheim ist ein sehr mutiges und ein sehr erschütterndes Buch zugleich. Es handelt von Gewalt in der Familie, lautstarker Gewalt sogar, die aber nie jemand gehört hat. Denn während der Vater seine Frau, meist nachts, misshandelte, drehte er die Musik, ein Stück von Nina Simone, so laut, dass sie alles übertönte. Der Sohn hielt sich die Ohren ebenso zu wie die Nachbarn, es entsteht ein einmütiges Schweigen darüber, weil sich niemand vorstellen kann oder möchte, dass diese Dinge tatsächlich geschehen. Nicht weit entfernt, sondern in der Nachbarwohnung, im Zimmer gleich nebenan.

Während der 18-jährige Simon im Zug nach Nordnorwegen sitzt, wo er (wahrscheinlich) seinen Vater im Gefängnis besuchen wird, denkt er darüber nach, wie es so weit kommen konnte. Lässt Episoden vor dem Auge des Lesers auftauchen, Kindheitserinnerungen an Erlebnisse und Gespräche, formuliert Fragen und Zweifel. Es entsteht das Bild einer tatsächlich erschreckend "normalen" Familie – in der allerdings der Vater die Mutter getötet hat. Ein Vater, den Simon durchaus liebevoll erlebt hat, der sich für die Natur begeisterte und der eine besondere Leidenschaft für die Musik hatte, die er mit der Mutter teilte. Die Eltern hatten sich auf einem Konzert von Nina Simone kennengelernt und ihren einzigen Sohn später nach ihr benannt – Simon.

Fretheim gelingt es, durch die knappen, manchmal geradezu kargen Schilderungen des Ich-Erzählers eine Stimmung zu beschreiben, in der vieles ungesagt und manches unterblieben ist, eine Familiensituation, die im Grunde jeden allein lässt. Ein Höhepunkt der Geschichte ist eine Situation, nachdem die Mutter "verschwunden" ist: Simon hört aus dem Schlafzimmer das besagte Lied, sein Vater brüllt laut mit. Simon tritt die Tür ein und findet seinen Vater vor – allein. In diesem Moment wird die ganze Dramatik des Jungen offenbar, der offensichtlich damit gerechnet hat, dass die Mutter zurückgekommen ist. Allen Mut hat er zusammen genommen, um das zu beenden, was er sich bisher nicht vorzustellen wagte. Doch da ist kein Opfer, und statt erleichtert zu sein, ahnt Simon, dass Schlimmeres geschehen ist, noch Schlimmeres. Später gab es Gespräche zwischen Vater und Sohn, in denen der Sohn mit Sätzen des Vaters leben musste, die schon für einen Erwachsenen schwer zu ertragen sind, zumal sie Grenzbereiche sexuellen Erlebens berühren, die von außen nicht beurteilbar sein müssen: "Mama hat es nur sich selbst zu verdanken, dass es nach außen anders schien, als es eigentlich war. Papa sagte, dass er nicht anders konnte. Ein Mann ist nun mal ein Mann, sagte er. (…) Deine Mutter, sagte Papa, möchte so von mir behandelt werden. Sie will das selber. Manche Menschen sind so, sagt Papa. Manche Menschen genießen den Schmerz. Glaub es oder nicht, sagte er. Aber so ist es. Die menschliche Psyche birgt so vieles, aus dem man nicht klug wird..." (S. 62/63) Dies sind Sätze, die für Simon, aber auch für den jugendlichen Leser schwer auszuhalten sind, vor allem, nachdem später der grausame Mord des Vaters an der Mutter lückenlos aufgedeckt werden kann. Dazu kommen Beschreibungen von Anwälten, Reportern und Polizisten aus Simons Sicht, Menschen, die beruflich mit Simon zu tun haben, nachdem der Mord festgestellt und der Täter ermittelt wurde.

Niemand scheint zu begreifen, in was für einer Situation sich der Junge befindet. Trost spendet allein ein Chorfreund der Mutter, den Simon kennenlernt, immerhin ein Lichtblick in düsterer Zeit für den jungen Mann, der diese Geschichte erzählt. Eigentlich wollte er sie aufschreiben, in einem Brief an Nina Simone. Aber mehr als die Anrede schafft er nicht, bis er in dem nordnorwegischen Ort ankommt, in dem sein Vater einsitzt. Ob er ihn tatsächlich besuchen – oder einfach zurückfahren wird - bleibt offen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von BSH; Landesstelle: Niedersachsen.
Veröffentlicht am 29.03.2016

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