Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas

Autor*in
Torseter, Øyvind
ISBN
978-3-8369-5900-1
Übersetzer*in
Dörries, Maike
Ori. Sprache
Norwegisch
Illustrator*in
Torseter, Øyvind
Seitenanzahl
120
Verlag
Gerstenberg
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Hildesheim
Jahr
2017
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
26,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Torseter erzählt eine neues Märchen, ganz traditionell und doch ganz anders, als wir es gewohnt sind. Denn einerseits kommt dieses Märchen als Graphic Novel daher, andererseits spielt der Autor mit traditionellen Märchenelementen auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene. So entsteht durch die Bild- und Textebene eine ganz eigene, innovative Märchenerzählung, die für Kinder und Erwachsene interessant ist.

Beurteilungstext

„Es war einmal ein König, der hatte sieben Söhne. Die liebte er so sehr, dass er keinen von ihnen missen wollte.“ So beginnen traditionelle Märchen und so beginnt auch „Der siebente Bruder“. Ganz traditionell geht es weiter: Die sechs älteren Brüder werden in die Welt geschickt, um für den Jüngsten (und sich selbst) Prinzessinnen zu suchen. Die sechs Brüder finden sechs Prinzessinnen, werden vom Troll jedoch in Stein verwandelt. Da muss der jüngste Bruder, Hans, auch in die Welt ziehen. Auf dem Weg zum Troll findet er ein Saxophon und steckt es ein. Er befreit einen Elefanten, der ihm zu Dank verpflichtet ist. Und er begegnet einem hungrigen Wolf, der ihm das Geheimnis des Trolls verrät: Er muss das Herz des Trolls zerstören. Schließlich muss er ohne sein Pferd weitergehen.
So kommt er zur Trollhöhle, vor der seine versteinerten Brüder mitsamt sechs versteinerten Prinzessinnen stehen. In der Trollhöhle trifft er auf eine gefangene Prinzessin, die ihm erklärt, dass es nicht einfach ist, das Trollherz zu vernichten, denn er trägt das Herz nicht in seinem Körper. Und es ist nicht einfach zu finden, denn der Troll lässt sich auch mit List nicht das richtige Versteck entlocken. Es ist nicht unter der Türschwelle, nicht im Wohnzimmerschrank, sondern tief unterm Keller, eingesperrt in ein Marmeladenglas, gut bewacht von einem Kraken. Mit Hilfe seiner Helfer, dem Elefant, dem Saxophon und seinem Pferd, gelangt der Jüngste Bruder an das Herz des Trolls und hat ihn damit wortwörtlich in der Hand. So kann er die Prinzessin, seine Brüder und deren Prinzessinnen befreien. Aus dem zerquetschten Trollherz wächst eine seltsame Pflanze. Da reiten Hans und die Prinzessin weit, weit weg. „Und so lebten die Prinzessin und Hans mehr oder weniger glücklich bis ans Ende ihrer Tage.“

Die Erzählung strotzt vor sprachlichen, strukturellen und inhaltlichen Anknüpfungen an traditionelle Märchen: Eingangs- und Ausgangsformel, Zahlensymbolik (sieben Brüder, drei Helfer, drei „Aufgaben“ etc.), weitgehende Namenlosigkeit, nur der Held hat den in deuten Märchen typischen Namen Hans (im norwegischen Original: Mulegutten: Maultierjunge). Der Aufbau folgt auch typischen Mustern, so gibt es eine knappe Exposition, der die ausführliche Bewährung des Helden folgt und am Ende eine Auflösung mit „gutem“ Ende. Die Rollen der Guten und Böse sind traditionell verteilt: Hans und seine Familie und alle Prinzessinnen sind gut, der Troll ist böse.
Und trotz all dieser Traditionalismen geht die Erzählung spielerisch mit diesen Elementen um: Weder Saxophon noch Elefant sind traditionelle Helfer. Die Wörtliche Rede – in der Regel in Sprechblasen in die Bilderzählung gesetzt – kommt oft frisch daher: „Keine Panik, schöne Prinzessin, ich rette dich vor dem Troll.“ oder „Nein, vergiss es, keine Chance!“ sind Äußerungen, die in traditionellen Märchen kaum zu finden sind.
Und dann bietet natürlich die Erzählweise als Graphic Novel ganz eigene Möglichkeiten des Erzählens. Bis auf den in Textform gestalteten Anfang wird alles Weitere in Text-Bild-Kombinationen oder nur in Bildern erzählt. Diese sind variabel: mal sind es Doppel- oder Einzelseiten, mal sind es drei oder vier Bilder auf einer Seite, die Handlungssequenzen darstellen. Die groben Zeichnungen sind zurückhaltend in Gelb-, Rot- und Brauntönen koloriert. Die Figuration erinnert ein wenig an die Mumins, ein Stil, der wenig märchenhaft wirkt. In den Bildern wird weitgehend auf nebensächliche Details verzichtet, so dass zentrale Erzählinhalte in den Mittelpunkt rücken. Teilweise bleiben die Darstellungen skizzenhaft. Gespielt wird auch mit den Perspektiven. Mal sind wir als Betrachtende nah am Geschehen oder den Figuren, mal haben wir einen Überblick über das raffinierte Gängesystem der Trollhöhle mit wackeligen Brücken und einem an einem Faden hängenden Aufzug. Die in den Bildern geschaffene Welt bietet einerseits Orientierung, regt aber auch eigene Vorstellungen an, indem wir Bildausschnitte erweitern, Erzählzwischenschritte ergänzen oder die Zeichnungen auf eigene Weise interpretieren können. Der garstige auf den meisten Abbildungen überpräsente Troll ist in den Bildern nicht nur böse, sondern auch hässlich.

Und natürlich wird zur Gestaltung auch die Sprachdarstellung eine Rolle: Neben Sprechblasen und Soundwords wie „SLAM“ oder „UÄÄÄHHH“ fällt vor allem die Gestaltung durch das Handlettering auf, dessen Gestaltung immer wieder das Gesagte charakterisiert. So nehmen beispielsweise die Worte des Trolls „Nie im Leben“ eine ganze Doppelseite ein, riesengroß und seitenfüllend, weiße Kritzeldruckschrift auf schwarzem Grund, umgeben nur von Knochen und Totenschädeln: Der Troll spricht eine klare Sprache…

Der Originaltitel „Mulegutten“ (2015 bei Cappelen Damm, Oslo erschienen) gibt dem Buch eine etwas andere Richtung. Wörtlich übersetzt heißt das Wort in etwa „Maultierjunge“. Torseter verweist damit nicht nur auf andere Bücher von ihm, in denen Mulegutten vorkommt (etwa „Hullet“. 2012 – Deutsch: „Das Loch“, 2014 oder „Mulyssis“ 2017), sondern gibt der Hauptfigur einen sprechenden und titelgebenden Namen, der sicher auch die Vorstellung von der Figur leitet. Maike Dörries wird als Übersetzerin sorgfältig abgewogen haben, inwieweit eine wörtliche Übersetzung für den deutschen Buchmarkt nicht sinnvoll gewesen ist. Ein wenig Schade ist es jedoch schon, dass nicht nur der Titel, sondern auch die Namensaussage geändert wurde. Ansonsten ist die Übersetzung hervorragend gelungen, was sich vor allem auch in den Sprachdarstellungen in den Bildern zeigt, denn das Handlettering setzt voraus, dass die Übersetzung ähnlich lang wie das Original ist.

„Der siebte Bruder“ ist ein wunderbares neues Märchen, das auf innovative Weise traditionelle Märchenelemente verarbeitet und mit ihnen spielt. Dabei werden die Erzählmöglichkeiten der Graphic Novel anspruchsvoll genutzt. Da es wenig erbaulich ist, das Buch vorzulesen, werden Kinder ab etwa 8 Jahren eine große Freude an Text und Bildern haben. Die Mehrdeutigkeit vieler Situationen in Text und Bild machen das Buch aber sicher auch für Erwachsene interessant, wodurch innerfamiliäre Gespräche über verschiedene Deutungen und Entdeckungen angeregt werden. Zu Recht ist dieses Buch 2015 mit dem „Kritikerprisen for årets beste barne- eller ungdomsbok“ ausgezeichnet worden und 2018 auf die Auswahlliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis gesetzt worden.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Christoph Jantzen; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 24.12.2018

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