Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin

Autor*in
Chang, Pei-Yu
ISBN
978-3-314-10382-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Chang, Pei-Yu
Seitenanzahl
20
Verlag
Nord-Süd
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Gossau
Jahr
2017
Lesealter
4-5 Jahre6-7 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
18,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Weil die Regierung Herrn Benjamin wegen seiner klugen, aber außergewöhnlichen Gedanken verhaften will, will er heimlich über die Grenzberge in ein anderes Land fliehen. Wegen seines schweren Koffers lassen ihn die Grenzwächter aber nicht durch. Danach wird er nicht mehr gesehen. Die Leute rätseln, was wohl in dem Koffer gewesen sein könnte, weil er ihn auf keinen Fall zurücklassen wollte.

Beurteilungstext

Inhalt
Es ist noch nicht so lange her, da lebte in einer Stadt ein Mann namens Herr Benjamin, der viel nachdachte und kluge ungewöhnliche Ideen hatte. Die Regierung seines Landes mochte aber keine klugen ungewöhnlichen Ideen und wollte ihn und auch andere kluge Menschen verhaften. Diese wollten fliehen und warteten darauf, dass Helfer sie auf heimlichen Wegen über die Grenze in ein anderes Land führten. Die Gruppe von Herrn Benjamin sollte von Frau Fittko geführt werden. Sie hatte gesagt, dass sie kein Gepäck mitnehmen sollten, damit niemand auf den Gedanken kommen könnte, dass sie fliehen wollten und sie verraten würde. Außerdem sei der Weg über die Berge schwierig. Trotzdem trat Herr Benjamin den Weg mit einem schweren Koffer an, an dem er schwer zu schleppen hatte. An der Grenze ließen die Grenzwächter die anderen Flüchtenden durch in das andere Land, Herrn Benjamin aber nicht. Danach hat niemand mehr den Herrn Benjamin gesehen. Die Leute rätselten aber, was wohl in seinem Koffer gewesen sein könnte.

Botschaft
Die Geschichte ist in Teilen an die Lebensgeschichte von Walter Benjamin angelehnt. Die Autorin und der Verlag weisen ausdrücklich darauf hin, indem sie an das Ende des Bilderbuchs eine kurze Zusammenfassung von erstens Benjamins Lebensgeschichte und Werk setzen und zweitens die von Frau Lisa Fittko, die als Fluchthelferin viele Emigranten über die Pyrenäen führte und damit deren Leben rettete.
Allerdings bewegt sich Chang immer wieder zwischen einer authentisch und genau nachgezeichneten Lebensgeschichte oder einer unhistorischen für Bilderbuchkinder unzulässig verkürzten und vereinfachten oder gar verfälschten Version oder gar einer allgemeinen Parabel über politische Repression hin und her. Die jüdische Herkunft Benjamins, die ein zusätzlicher wichtiger Grund für seine Verfolgung war, wird z. B. unterschlagen, ebenso sein tatsächliches Ende: Benjamin war bereits auf spanischem Boden, fürchtete aber, dass die Spanier ihn wegen eines neuen Dekrets ausliefern würden und beging deshalb Selbstmord.
Dieses tragische Ende wollte man den Bilderbuchkindern nicht zumuten. Dadurch wird die Geschichte versimpelt und das Problem auf eine niedrigere Ebene heruntergeholt.

Die Autorin hätte die Möglichkeit gehabt, zu schreiben, dass in dem Koffer wichtige Manuskripte waren, und hätte so auch Bilderbuchkindern vermitteln können, dass das Produkt eines geistig Arbeitenden seine Manuskripte und Veröffentlichungen sind und dass mit ihrem Verlust seine gesamte Lebensarbeit vernichtet wird.

Mit dem Rätselraten um den Kofferinhalt wird jedoch das Thema der politischen Verfolgung verlassen und eine ganz neue Geschichte eröffnet, die man als eine Parabel über das soziologische Thema betrachten könnte, wie sich Gerüchte bilden, wenn Fakten fehlen, und durch Vermutungen ersetzt werden.
Ein „Akademiker“ (hat ein Bilderbuchkind eine Vorstellung von diesem Begriff?) wird eingeführt, der behauptet: „Meiner Theorie nach hat er eine Theorie geschrieben als Antwort auf meine Theorie!“ Die nächste Vermutung kommt von den „Generälen in Benjamins Heimatland, die Wind von der Sache bekommen hatten, [sie] stritten bei einem Gipfeltreffen darüber: `Benjamin hat bestimmt die gefährlichste Waffe gegen uns in seinem Koffer gehabt.´“
(Der ironische Seitenhieb auf den Wissenschaftsbetrieb und auf politische Gipfeltreffen entgeht Bilderbuchkindern, er ist an die erwachsenen Mitleser adressiert.)
Ein Fotograf vermutet eine große Geschichte der Fotografie in dem Koffer, die Bergbewohner können sich jedoch nur Käse und Marmelade in dem Koffer vorstellen.

Mit dem Hin- und Herwechseln zwischen den Genres und den Adressaten, zwischen historischer Authentizität und Märchenhaftigkeit wird der Rezipient in starkem Maße verunsichert.
Durch den leeren Koffer auf dem Vor- und Nachsatzblatt soll eine Spannung aufgebaut werden, tatsächlich wird hier der Rezipient in die Irre geführt, der in der erzählten Geschichte doch hört, dass der Koffer sehr schwer gewesen sei.

Die Verunsicherungen des Rezipienten machen sich nicht nur am Text, sondern auch an der bildlichen Umsetzung fest.
Die Männer, die Benjamin verhaften wollen, sind keine Polizisten oder Parteivertreter, sondern Soldaten. Sie tragen keine authentischen braunen SA-Uniformen, sondern diese sind dunkelgrün mit roten Kragen und Schulterstücken, erinnern in Farbe und Schnitt an sowjetische Uniformen. Auf der roten Armbinde gibt es kein Hakenkreuz, sondern zwei gekreuzte Pfeile. Uneindeutig ist auch ihre Geste. Ist das Erheben der linken Arme eine Geste des Hinausweisens oder ein Hitlergruß? Inkonsequenterweise haben sie auf der nächsten Seite keine Schirmmützen auf, sondern Stahlhelme und halten ein Gewehr im Anschlag.

Form
Die graphische Gestaltung ist anspruchsvoll: stilisiert, minimalistisch reduziert und zeichenhaft. Einzelne spielzeugartige Gegenstände, die nach Art von Kinderzeichnungen vereinfacht wurden, stehen symbolhaft für einen größeren inhaltlichen, auch abstrakten Komplex.
Gut gelungen ist z. B. der Prozess des Nachdenkens und Philosophierens optisch umgesetzt, das Formulieren von Gedanken, ihre Bildung und Verwerfung.

Die Perspektive ist ein Blick von oben auf das Geschehen.

Chang kombiniert unterschiedliche Techniken im Collageverfahren. Sie schneidet ihre Formen aus Papieren mit ursprünglich fremdbestimmtem Zweck – liniert oder kariert – aus und fügt Details mit dem Buntstift hinzu oder unterlegt die ausgeschnittenen Formen mit Buntstiftkringeln. Es gibt aufgeklebte Sprechblasen und Pfeile, die Hinweise zur Rezeption geben.
Dazu dient auch eine sprechende Typographie: Wichtige Wörter werden durch große Buchstaben hervorgehoben.

Das alles hat die Wirkung der Desillusionierung, der Vermeidung eines kulinarischen, identifizierenden Bildgenusses. Die Gemachtheit des Bildes wird deutlich gemacht und dadurch Distanz erzeugt.

Auch durch die Versetzung des Geschehens in eine nostalgische Kinderspielzeugwelt nimmt die Illustratorin Abstand von der aktuellen, aber auch der historischen Realität.

Ein aufmerksames Lektorat hätte Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten im Zusammenspiel von Text und Bild vermeiden können. Z. B. „Dann sahen sie von weitem endlich Herrn Benjamin, durchgeschwitzt und außer Atem – und mit einem schwarzen Koffer in der Hand, den er anscheinend mit aller Kraft tragen musste.“ Auf dem Bild stimmt jedoch die Körpersprache nicht: Herr Benjamin schwenkt einen offensichtlich leichten Koffer und ist in keiner Weise gebeugt und angestrengt.
„Die Flüchtenden liefen über Felsen und Geröll.“ Bild: flüchtig hingetuschte grüne runde Hügel. Später sind die gezeichneten Bäume weder die Olivenbäume noch die Brombeerbüsche, von denen der Text spricht.

Eine ausgesprochene Nachlässigkeit ist, dass eine von den Flüchtenden mal rote Haare hat, mal trägt sie einen roten Hut.

Zielgruppe
Die Adressierung ist widersprüchlich. Die spielzeugartigen Illustrationen und der parabelhafte Erzählstil zielen wohl auf Kinder im Bilderbuchalter. Diese verstehen aber nicht die gelegentliche Ironie in Text und Bild. Z. B.: „Während die anderen [Flüchtlinge] schon fleißig übten, wie man unauffällig aussieht.“ Bild dazu: Ein Flüchtender liest Zeitung, ein anderer hält sich zur Tarnung einen Zweig vor das Gesicht.

Einsatz in der Gruppe
Das Buch ist ein interessanter graphischer Versuch, eröffnet sich aber nicht von allein, sondern muss von Vermittlern in mehrfacher Weise erklärt und korrigiert werden. Nötig wäre dazu noch zusätzliches Informationsmaterial oder das Herauslösen nur eines Teils der Geschichte. Das Rätselraten über den Kofferinhalt könnte mit kleineren Kindern fortgesetzt werden, wird aber dem politischen Gehalt nicht gerecht. Politische Verfolgung und Flucht und das schwere Schicksal von Geistesarbeitern, die in der Emigration von ihrem Publikum abgeschnitten werden und in der fremden Sprache nicht Fuß fassen können, könnte erst frühestens ab der Grundschule erarbeitet werden. Für diese Zielgruppe sind aber graphischer und sprachlicher Stil zu einfach.

Autorin / Illustratorin
Pei-Yu Chang (geb. 1979) studierte Deutsche Kultur und Sprache sowie Deutsche Literaturwissenschaft in Taipeh (Taiwan) und Illustration in Münster. Im Februar 2016 schloss sie ihr Studium ab. Das vorliegende Bilderbuch war ihre Abschlussarbeit.

Geralde Schmidt-Dumont

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gsd; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 30.07.2017

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