An Großvaters Hand - Eine Kindheit in China

Autor*in
Jianghong, Chen
ISBN
978-3-89565-210-3
Übersetzer*in
Scheffel, Thomas
Ori. Sprache
Französisch
Illustrator*in
Jianghong, Cheng
Seitenanzahl
77
Verlag
Moritz
Gattung
BilderbuchSachliteratur
Ort
Frankfurt
Jahr
2009
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
24,80 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Chen Jianghong, Jahrgang 1963, erzählt von seiner Kindheit im China der Kulturrevolution. Aus einfachen aber behüteten Verhältnissen stammend erlebt er den Wandel der Zeiten. Menschen werden durch die Stadt getrieben, die Nachbarin verschwindet, der Vater kommt ins Umerziehungslager. Während Chen sich in der Schule mit dem System arrangiert, zerbricht die Seele seiner Großmutter daran. Mit dem Tod Maos und der Heimkehr des Vaters 1976 kehrt das Gefühl von Normalität in Chens Leben zurück.

Beurteilungstext

Chen Jianghong kombiniert in seiner Graphic Novel großformatige kolorierte Tuschezeichnungen mit schlichten, eindringlichen Texten. Er beschreibt darin die Stationen seiner Kindheit konsequent aus der Sicht des Kindes, wertfrei und ohne die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe zu erklären. Die Leser werden so zu Beobachtern, die das Geschehen abhängig von ihrem persönlichen Informationsstand mehr oder weniger in die Zusammenhänge der Kulturrevolution einfügen können. Da sind Chens Großeltern, die ihre wenigen Erinnerungsfotos verbrennen, weil sie darauf traditionelle Seidenkleidung tragen, da ist der Vater, der die Familie zur Umerziehung verlassen muss, da ist die freundliche Nachbarin mit der schönen Musik, die von Rotgardisten misshandelt und verschleppt wird. Sie wird nie mehr auftauchen, und erst Jahre später begreift Chen, “dass es Werke von Mozart waren” (S. 33), die sie hörte. Chen trauert um diese Menschen, doch er ist auch stolz und glücklich, als er endlich die rote Armbinde der Kleinen Rotgardisten tragen darf. Er begreift noch nicht, dass das eine mit dem anderen zusammen hängt. Die Erzähltechnik Chen Jianghongs lässt zu, dass die Leser seine Geschichte auf vielen Ebenen miterleben können. Von der ganz privaten kleinen Welt des kleinen Chen bis zur gesellschaftlichen Analyse des China der 60er und70er Jahre bietet der Autor seinen Lesern ein breites Spektrum der Möglichkeiten an. Wichtigstes Werkzeug dafür sind seine Bilder, die das Leben der Menschen sorgfältig in Szene setzen und mit aufschlussreichen Details gespickt sind.
Der erste Eindruck beim Aufschlagen des Buches ist der einer düsteren, trostlosen Welt, die dort abgebildet ist. Durchweg gedeckte Farben, grauer Himmel, graue Wände... eine graue Welt. Die Alten haben teilweise monsterhafte Gesichtszüge, das Weiße in den Augen der Menschen ist abstoßend fleischfarben, Stimmungen sind in den Gesichtern nicht immer zuverlässig ablesbar. Im Gegensatz dazu steht allerdings manches von dem, was auf den Bildern dargestellt ist. Vor der Kulturrevolution lebt Chen zwar unter bescheidensten Verhältnissen in einer “winzigen dunklen Wohnung” (S.8) in einer verrußten Großstadt, doch er ist eingebettet in eine fürsorgliche Großfamilie. Die Großeltern kümmern sich um die Kinder, die mit ihren Freunden im Hof spielen und Küken und Katzen liebkosen. Diese stille, friedliche Welt verschwindet abrupt, als Mao die Kulturrevolution ausruft. Chen bricht zusammen mit seiner Gesellschaft in eine neue Zeit auf. Sein Alltag wird straff organisiert, rote Fahnen und aggressive Männer in Uniformen tauchen auf. Die ganze Verzweiflung des kleinen Jungen ob des Todes seines geliebten Großvaters bringen fast schwarze Zeichnungen zum Ausdruck; aber es gibt auch die Momente der privaten Freude beim Spielen mit den Kameraden.
Die Farbe Rot spielt in diesem Buch mit dem roten Cover eine besondere Rolle. Rot ist in China die Farbe des Glücks. Rot ist aber auch die Farbe der Revolution, die so viel Leid über Chen Jianghongs Familie gebracht hat. Diese gegensätzliche Symbolkraft zieht sich wie ein, na klar, roter Faden durch die Erzählung.
Für deutsche Leser gibt es im Buch noch eine weitere interessante Wahrnehmung. Es gibt inhaltliche und äußere Parallelen zur Nazi-Zeit in Deutschland. Das öffentliche Misshandeln und Anprangern Andersdenkender, Uniformen, Bürger in Reih und Glied, Lebensmittelkarten, Indoktrination, Angst vor Denunziation und auch die roten Revolutionsbanner mit schwarzen Schriftzeichen auf weißem Grund, die an Hakenkreuzfahnen erinnern, beschwören Assoziationen geradezu herauf.
Mit dem letzten Bild schlägt der Autor den Bogen zu seinem jetzigen Leben in Frankreich. Seine Eltern, sein Elternhaus und sogar den Baum im Hof, die Wurzeln seiner Persönlichkeit, gibt es noch. Die Stadt drum herum hat sich, wieder einmal, “sehr verändert”.
“An Großvaters Hand - Eine Kindheit in China” ist ein emotional anrührendes und zugleich lehrreiches Buch. Seine Zielgruppe ist jedoch schwer zu fassen. Während es sich inhaltlich schon für Grundschulkinder eignet, wirkt die düstere Darstellung regelrecht abstoßend. Wohl erst im Erwachsenenalter kann man darüber hinweg sehen und diesem authentischen Erfahrungsbericht etwas abgewinnen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Spra.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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