Alleingelassen

Autor*in
Fuchs, Thomas
ISBN
978-3-401-02739-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
169
Verlag
Arena
Gattung
Ort
Würzburg
Jahr
2008
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
5,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

John ist 13 und in der Schule einer der Besten. Er hat zwei jüngere Geschwister, um die er sich kümmert, kümmern muss, da die Mutter, hochschwanger, zu ihrem neuen Freund gezogen ist. John managt den Haushalt, alle Vereinbarungen mit den Ämtern, den Schulen der Kinder. Als aber die Mutter ihren Arbeitsvertrag kündigt ohne für Ersatz zu sorgen, beginnt der Niedergang. Ohne Geld, ohne Hilfe schafft auch John nichts mehr. Am Ende steht nur seine Freundin zu ihm, sie wird initiativ.

Beurteilungstext

Als Erstes fällt dem Leser die Diskrepanz zwischen der sozialen Schicht und Johns Sprache in der Ich-Erzählung auf. Thomas Fuchs rechtfertigt das zwar mit der hohen Intelligenz des Jungen, aber die Dialoge sind realistischer, eine sprachliche Differenzierung findet dort nicht statt. Auch die Einsichten, Erkenntnisse und Planungsfähigkeiten Johns teilen sich zwar sprachlich mit, dass er sich aber selbst viel vormacht, sich selbst der Realität nicht stellt, nicht stellen kann, wird nur durch die äußere Handlung deutlich. Erst gegen Ende wird deutlich, dass der Junge, immer noch 13, sich einfach nicht eingestehen kann zu versagen. Er war als Kind im Heim, schon seinerzeit hatte die Mutter keinen anderen Ausweg gefunden, und diese Zeit hat er in so negativer Erinnerung, dass er alles unternimmt, um seinen Geschwistern diesen Schritt zu ersparen. Denn die Fähigkeiten der Mutter schätzt er völlig richtig ein: sie belügt sich selbst, macht sich etwas vor, lebt nur in Träumen und beklagt sich über das Heute, wo es ihr so schlecht geht. Aber morgen wird alles besser.
Unaufhaltsam verwahrlost die Wohnung. John schafft es nur bis zum letzten Augenblick, beide Geschwister so zu kleiden, dass sie allenfalls positiv auffallen. Anfangs bewahrt er den Schein durch Ebay-Einkäufe, später durch Basare und die Kleiderausgabe der Wohlfahrt, er verhindert so, dass die Mutter zu teuer einkauft und doch deutlich macht, dass sie nur das Billigste kaufen kann. Es ist unglaublich, auf welche Tricks der Junge kommt, welche Lücken er findet, so dass buchstäblich niemand merkt, dass hier eine Familie vor aller Augen zerbricht. Um das intakte Familienleben zu spielen, liest er abends seinen Geschwistern vor, meldet sich zu einem Schwimmkurs an. Erst als schließlich der Strom abgestellt wird, klaut er - aber das ist auch schon das Ende. Vorher bricht er in die Nachbarwohnung ein, nur um der Lehrerin des kleinen Bruders bei einem Hausbesuch zu zeigen, wie gut es ihnen geht. In ihrer eigenen Wohnung kommt er schon kaum noch über den Flur vor lauter Müll, dreckiger Wäsche, Unrat.
Fuchs stellt jedem der 13 Kapitel Äußerungen von Nachbarn, Ämtern, Vorschriften, die die Blindheit der Gesellschaft vor Augen führen. Keiner sieht genau hin, die drei Kinder verstehen zu verstecken, zu blenden. Wenn eines doch mal ausbricht, biegt der Ältere das schnell wieder zurecht.
Eine unglaubliche Figur - aber leider eine realistische - ist der Freund der Mutter. Er verfügt über keinerlei Empathie, sieht nur sich selbst, freut sich auf das werdende Kind, sieht aber nicht, dass seine Freundin bereits drei Kinder hat, die sie völlig sich selbst überlässt, sich um nichts kümmert. Er ist derjenige, der Einblick haben könnte. Aber das Einzige, was er schafft, ist, John Vorwürfe zu machen, mit Heim zu drohen. Das ist alles.
John wiederum zeigt, wozu ein 13-, 14-Jähriger in der Lage sein kann, dass er über sich selbst hinaus wachsen kann, erwachsener reagiert als Gleichaltrige. Aber der Autor zeigt auch, wo die Grenzen sind, wo ein Halbwüchsiger einfach nicht mehr gerade stehen kann, wenn die Rahmenbedingungen zusammenbrechen. In unserer sozial vernetzten Gesellschaft kann eine Familie sich nicht isolieren, das schaffen allenfalls Einzelpersonen. John hält dem ungeheuren Leistungsdruck nicht ungebrochen Stand: Wenn der Frust zu groß wird, die Perspektivlosigkeit zu offenbar, entlädt sich sein Frust im Abfackeln eines Horts, eines Motorrades, im Scratchen eines Autos. Hier droht er völlig ins Abseits zu gelangen. Gleichzeitig aber ist er auch ein völlig normaler Junge, der seine erste Liebe erlebt, sich mit diesem Mädchen trifft, deren Zuhause genießt, auch wenn die Mutter Miriam ob ihrer Behütung nervt. Die ist eben das genaue Gegenteil seiner Mutter. Aber Miriam ist es auch, die dem Albtraum ein Ende bereitet.
Eine bedrückende Lektüre ist das Buch trotz des guten Endes vor allem deshalb, weil Fuchs seiner Erzählung einen realen Vorfall zu Grunde legte. Ein solcher Fall könnte sich also im Augenblick nebenan abspielen, und keiner merkt es.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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