Zeit ist eine Blume

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Teaser

Kann die Zeit eine Blume sein? Ist die Zeit nur das Tick, Tick, Tack der Kuckucksuhr an der Wand? Philosophieren über das Wesen der Zeit ist das Thema in Julie Morstads neuem Bilderbuch.

Beurteilungstext

Das großformatige Bilderbuch kommt ganz in Magenta mit lackiertem Einband- und magentafarbenem Vorsatzmaterial daher und bietet damit eine starke Aufforderung, es in die Hand zu nehmen. Das Buch ist nicht nur auf den ersten Blick ein Mädchenbuch, wenn man der Farbe Magenta vordergründig eine Zuschreibung zu einem bestimmten Geschlecht gibt. Auch nicht auf den zweiten Blick, weil die Illustratorin die Farbe Magenta so häufig neben den Farben Schwarz, Weiß und Taubenblau verwendet hat. Es ist die Tatsache, dass ca. zweimal so viele weibliche wie männliche Personen im Buch gezeigt werden, und damit eindeutig eine Bevorzugung der weiblichen Personen offenlegt. Hier wünscht man sich, die Autorin hätte aufmerksamer gearbeitet.

„Zeit ist eine Blume“ präsentiert mit ungewohnten Erklärungen Antworten auf die Frage eines Mädchens, was Zeit ist. Beispielsweise wird Zeit sichtbar in dem Zeitraum, den eine Blume vom Samenlegen über der Dauer des Erblühens bis hin zum Verwelken ausfüllt. Sogar im gesponnenen Netz einer Spinne materialisiert sich Zeit: „Zeit ist ein Netz. Kaum zu sehen, sorgsam gesponnen, fein gewebt … von der ruhigen Spinne.“ Genauso wie einst ein Kiesel einmal ein Berg war. 
Warten auf den Schulschluss, Aushalten von Streitigkeiten, in den Armen eines geliebten Menschen eingekuschelt sein während der Vorlesestunde - viele Varianten schildert Morstad und zeigt damit auf, wie und woran wir den Faktor Zeit für uns erfahrbar machen können.

Was macht dieses Buch einzigartig und wertvoll, wie es der Verlag auf seiner Homepage formuliert? Das große Buchformat, die klaren und gradlinigen Zeichnungen auf ruhigem und einfarbigem Hintergrund oder die Bearbeitung des Themas Zeit für diese Altersgruppe? Es sind das Zusammenspiel von Frage und Antwort, Text und Bild und die einfühlsame Bebilderung der Situationen, in denen das kleine Mädchen der Zeit nachspürt.

Dieses Buch hebt sich ab von Antje Damms Bilderbuch „Alle Zeit der Welt“ (2007, Moritz Verlag), das sich in kleinerem Format und mit konkreten, meist fotografischen Gegenüberstellungen mit dem Thema auseinandersetzt. Die kanadische Autorin und Illustratorin Julie Morstad geht verspielter, zartfühlender und träumerischer in ihrem Buch vor. Ihre Protagonistin drängt mit ihren Fragen und einer gewissen Portion Ungeduld die Leser und Leserinnen vorwärts, in Richtung möglicher Antworten, wie zum Beispiel mit der Erklärung, „Zeit ist, innezuhalten und darüber nachzudenken, was du getan hast“. Das Innehalten ist es auch, was die Leser*innen auf jeder einzelnen Seite schon allein aufgrund der ruhigen und bildlichen Darstellung wahrnehmen können. Die Motive lassen Zeit und Raum zum Hineinvertiefen in die Frage, Hineinvertiefen in das Motiv. Sie lassen Zeit zum Nachdenken, Sinnieren und neugierigen und fragenden Auseinandersetzen mit dem Thema Zeit.

Dieses philosophische Bilderbuch, das Kinder ab vier Jahren ansprechen kann, endet mit der provokanten Frage „Ist Zeit eine Linie? Oder gar ein Kreis?“ Die passende bildnerische Umsetzung der Fragen liefert sie gleich mit - in Form einer Linie, die mit aufsteigenden Zahlen durchnummeriert ist, auf der Kinder sich entlangbewegen, und eines Farbkreises. Verschmitzt heißt es am Ende: „Ich weiß es nicht, aber es ist Zeit zum Abendessen.“ - Für dieses Buch gewann Julie Morstad den kanadischen Govenor General’s Award 2022.