Völlig meschugge?!

Autor*in
Steinhöfel, Andreas
ISBN
978-3-551-79609-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Garanin, Melanie
Seitenanzahl
288
Verlag
Carlsen
Gattung
Comic
Ort
Hamburg
Jahr
2022
Lesealter
12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
20,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die drei ungleichen Freund*innen Benny, Hamid und Charlie – von Charlotte – sind unzertrennlich. Bis eines Tages eine Halskette mit Davidstern einen unheilvollen Stein ins Rollen bringt und sich die drei in einer antisemitischen Mobbing- und Gewaltspirale wiederfinden, aus der sie erst nach etlichen rasanten Wendungen und Verwicklungen wieder herausfinden.

Beurteilungstext

Eine 288 Seiten starke Graphic Novel zum Thema „Antisemitismus“ nach einem Text des renommierten Kinder- und Jugendbuchautors Andreas Steinhöfel – das Vorhaben macht neugierig und die hohe Erwartung wird nicht enttäuscht. Melanie Garanins Band „Völlig meschugge“ reißt seine Leser*innen von der ersten Seite an mit, was einerseits natürlich an der spannenden Geschichte um die ungleichen Freund*innen und Hauptfiguren liegt: den jüdischen Jungen Benny, den aus Syrien geflüchteten Hamid und Charlie, ihres Zeichens zivilcouragierte Umweltaktivistin und Skaterin.
Die Geschichte ist in einer namenlosen Kleinstadt verortet, in der das Leben der Protagonist*innen sich altersgerecht v.a. in der Schule, im Park, manchmal auch im Zuhause der Protagonist*innen und am Ende in einer Höhle abspielen. In dieser Höhle versteckt sich Benny, nachdem sich die verwickelte Handlung immer mehr zugespitzt hat: Aus einer Handydiebstahlserie entstehen manifeste Verdächtigungen und Bedrohungen zwischen verfeindeten Jugendlichen, und Hamid und Benny entzweien sich über sein Jüdischsein. Hinzu treten etliche interessante Nebenfiguren, wie z. B. das Mobbing-Alphatier Lennart, die in einem Wohnmobil lebende, stets cholerische Jasmin, Geschwister und Lehrer*innen der Hauptfiguren.
Junge Leser*innen werden vor allem zur Identifikation mit der sympathischen Ich-Erzählerin Charlie eingeladen, was u. a. an ihrer dynamischen und schwungvollen Ansprache in Umgangs- und Jugendsprache liegt: „Und damit Abgang Lennart Hofer. Muss ich es aussprechen? Nee… Aber, ach, ich tu’s so gerne, besonders für ihn: Lennart ist ein Arsch! Also so ein echter Klassikerarsch!“ In diesem Stil führt sie mit überbordenden Schnacks und Nebenbemerkungen durch die Geschichte, und wenn diese manchmal leicht aufgesetzt wirken, ist das absolut verzeihlich, denn ihren authentischen Ich-Botschaften kann man sich einfach nicht entziehen: „Okay, ich nerve. Aber mich nervt’s halt, wie die meisten Tiere gehalten werden, bevor wir sie aufessen. Weshalb ich keine mehr esse, aber dafür Schokolade. Wobei die Haltungsbedingungen der durchschnittlichen Kakaobohne auch nicht so pralle sind.“
Es ist also die Erzählweise und vor allem die zeichnerische Umsetzung, die „Völlig meschugge“ mitreißend und dabei auf intelligente Weise anspruchsvoll machen.
Garanin schüttet ein ganzes Füllhorn aus witzigen Bildern mit einem Gespür für Kleidung, peer group und expressive Mimik und variantenreichen narrativen Ideen über den Leser*innen aus. Damit erweitert sie ganz nebenbei das Genre Comic durch mehrere innovative Elemente: Es gibt z. B. Metakommentare direkt an die Leser*innen („Wie merkwürdig anders eine Szene wirkt, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Hauptfigur.“), viel direkte Anrede und Aufforderungen („Moment: Könntet ihr hier mal kurz das Buch 90 Grad im Uhrzeigersinn drehen? […] Das ist hier notwendig, weil… Ach, macht einfach.“). Glücklicherweise sind diese Elemente keine bloßen Spielereien, sondern unterstützen den Spannungsbogen der Geschichte.
Insofern bietet dieser Comic sicher auf der bildlichen Ebene eine Erweiterung des Erfahrungsraums der jugendlichen Leser*innen und in inhaltlicher Hinsicht werden wichtige Werte und Normen wie religiöse (und atheistische!) Toleranz und Zivilcourage vermittelt. Mit dem Sieg der Freundschaft über alle religiösen und sozialen Unterschiede hinweg liefert der Comic neben dem eindeutigen Statement gegen Antisemitismus eine weitere, existentielle Botschaft.
Nichtsdestoweniger bleibt leider anzumerken, dass trotz aller Bemühungen um Ausgewogenheit der Charaktere und Situationen gewisse Stereotype im Ansatz reproduziert werden. Warum hat der syrische Junge Hamid „wieder“ einen radikalen, gewalttätigen Bruder, der mit seinen bösen Freunden im Park abhängt und eine Kopftuch tragende Mutter, die ihrer Tochter eine Liebesbeziehung verbietet? Warum „muss“ der jüdische Benny ein Überflieger in der Schule sein? Die Identifikationsfigur und umsichtige, mutige Heldin ist dann vor allem die herkunftsdeutsche Charlie mit den richtigen Werten: Tierschutz und Atheismus („und was ist mit dem ganzen Allah- und Judenkram“?). In gewisser Weise kann man sich am Ende des leisen Eindrucks nicht erwehren, dass eben genau darin sich Vorurteile anhand vermeintlich typischer „Subjektpositionen“ abbilden, die bei den jungen Leser*innen jederzeit abrufbar sind. Auch kommt der Comic insgesamt zu überfrachtet daher. Es gibt einfach zu viele Figuren und dadurch ausgelegte Erzählstränge, z. B. beim Comic im Comic, den Hamid zeichnet und in dem bei einem Plädoyer gegen Gewalt noch ein Flüchtlingsboot und die Erinnerung an die Shoa auf einer Seite angedeutet werden. („Schaut’s euch ruhig nochmal an: Sowas soll nie wieder passieren!“) Hier wäre inhaltlich weniger mehr gewesen.
Insgesamt ist der Comic aber für die Zielgruppe ab 12 ein altersgerechtes Leseabenteuer und macht sich um das Thema „alltäglicher Antisemitismus“ wirklich sehr verdient. Empfehlenswert.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von KAB; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 23.08.2022

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