Traumspringer

Autor*in
Rühle, Alex
ISBN
978-3-423-76246-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Meinzold, Max
Seitenanzahl
256
Verlag
dtv
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2019
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,95 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Leon sei ein Traumtänzer, meinen seine Eltern. Nein, ein Traumspringer, sagt dagegen Morpheus, dieser geheimnisvolle Mann, den der Zwölfjährige zum ersten Mal anlässlich sonderbarer Ereignisse im Zoo trifft. Mit Verwunderung stellt Leon fest, dass er die Träume seiner Freunde mitträumt und dabei immer tiefer in eine fantastische, aber oft auch alptraumhafte Welt eindringt: eine Welt, in der Träume nicht nur gesammelt, sondern auch systematisch gestohlen werden ̶ mit erschreckenden Folgen.

Beurteilungstext

Dass Heranwachsende bisweilen die Welt um sich herum vergessen, ist nicht ungewöhnlich. Bei Leon sind die Tagträume jedoch derart intensiv, dass er sie kaum noch von der Realität unterscheiden kann. Mitten im Schulunterricht passiert dies dem Sechstklässler. Oder bei einem Besuch im Zoo. Und dann ist immer wieder der schwarze alte Mann dabei, der sich Morpheus nennt, angeblich schon seit Ewigkeiten existiert und Leon auffordert, sich etwa in einen stockfinsteren Tunnel zu begeben, an dessen Ende er sich dann unerwartet in seinem ganz normal wirkenden Klassenzimmer wiederfindet.
Alex Rühle hat diese nicht so recht greifbaren Übergänge zwischen Realität und Traum sehr anschaulich beschrieben. Da stellen sich beispielsweise typische Fragen: „Woher willst du wissen, dass du träumst?“ (S. 29); „Träumte ich gerade das, was ich hier wach erlebe? … Was war das hier nur? Ein Traum im Traum?“ (S. 35).
Aber es geht natürlich im Roman nicht allein um solche teils alptraumhaften, aber eigentlich eher banalen Traumerlebnisse. Leon stellt fest, dass er in die Träume seiner Freunde hineinspringen kann. Und er wird darin zunehmend von Morpheus oder dessen Geschwistern mit unerwarteten Aufgaben bedacht. Das Fantastische dieser Traumwelt findet seinen Gegenpart in einem ganz neu entwickelten Computerspiel der Firma Nychtos, wo der Vater von Leons Schulkameraden Max arbeitet und seinem Sohn dadurch stets die aktuellste Version zur Verfügung stellen kann. „Das Spiel“, wie es schlicht heißt, bei dem sich zumeist einzelne Figuren irgendwo auf einer dramatischen Flucht befinden, wirkt auf alle User derart realistisch, dass sie über viele Stunden nichts anderes mehr um sich herum mitbekommen. Und dann sind da noch etliche hunderte Fälle von unerklärlich verschwundenen Kindern und Erwachsenen. Dazu gehört auch Elena, die kleine Schwester von Elias, einem tschetschenischen Flüchtlingsjungen aus Leons Klasse, der sich anfangs äußerst zurückhaltend aufführt. Über seine Träume kommt Leon dem Geheimnis näher; er macht sich gemeinsam mit Elias von München aus auf die Suche nach der Schwester, die sich in einem kleinen ungarischen Dorf befinden soll. Immer mehr erschließt sich, was das neue Computerspiel und das mysteriöse Verschwinden der vielen Menschen miteinander zu tun haben.
Allmählich wird daraus eine besondere Zielsetzung des Romans deutlich. Rühle kritisiert eindringlich, dass Menschen jedweden Alters, vor allem aber Heranwachsende immer stärker einen Großteil ihrer Zeit mit Daddeleien und Zockereien am Handy oder Computer vertun und den Blick für die Wirklichkeit verlieren. Die scheinbare Realität der Games, so wie sie der Autor schildert, ist indes kaum übertrieben; bereits existierende Spiele haben solch ein Stadium nahezu erreicht. Umso mehr unterstreicht Rühle den Wert von Träumen, auch wenn sie schwerlich in dem Maße vorkommen dürften, wie dies bei Leon geschildert wird. Aber Tag- wie auch Nachtträume sind für ihn nicht automatisch mit Weltfremdheit gleichzusetzen, sondern ein normaler Teil einer Erlebnisverarbeitung im Gehirn, die auch Sehnsüchte des Menschen beinhaltet und kreative Energien freizusetzen in der Lage ist. Und er sieht sie quasi als eine Art Menschheitserbe, das dauerhaft zu archivieren und sinnvoll (oder auch zerstörerisch) zu nutzen sich lohnen würde. Genau das ist es, was dann im Roman auch geschieht.
Eine wichtige Rolle spielt im Roman zudem das Thema Freundschaft: Nach anfänglichem gegenseitigem Unverständnis können sich Leon und Elias zunehmend aufeinander verlassen, zumal sie als gemeinsames Ziel die Suche nach Elena verbindet. Im krassen Gegensatz dazu steht das Verhältnis zu anderen Klassenkameraden, die für soziale Kontakte kaum noch Zeit aufwenden, weil sie leider nahezu in jeder freien Minute mit dem „Spiel“ beschäftigt sind.
Das subtile Changieren zwischen Traum und realer Welt ist bestimmend im gesamten 'discours', mit fließenden, bisweilen kaum merklichen Übergängen mal zur einen, mal zur anderen Seite. Vor allem zum Ende hin überwiegt jedoch das Fantastische. Diese Wechsel sind es, die den besonderen Reiz der homodiegetisch aus Leons Perspektive erzählten Geschichte ausmachen und den Spannungsaufbau intensivieren.
Warum gerade Ungarn, konkret das fiktive Dorf namens Almodozasvarosa, in einer etwas diskriminierend anmutenden Weise als Standort für die menschenverachtenden Machenschaften von Morpheus‘ Bruder Kraton gewählt wurde, erschließt sich nicht.
Erwähnenswert ist das ansprechende Buchcover: Es zeigt passend einen springenden Junge mit wehenden goldfarbenen Wolkenschleppen vor hell- und dunkelblauem Hintergrund mit einem alten Baum samt etlichen daran hängenden Fledermäusen.
Ob Rühle eine Fortsetzung seiner Traum-Idee plant? Das scheint nicht ausgeschlossen; denn das groß geschriebene „ENDE“ wird unmittelbar vorher von der letzten Aussage Morpheus‘ gegenüber Leon konterkariert: „ Danke für deine Hilfe. Wenn ich dich brauche, werd ich dich rufen. …Wahrscheinlich war das hier erst der Anfang.“

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPGK; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 07.09.2021

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