Sehr kleine Liebe

Autor*in
Lieshout, van
ISBN
978-3-943919-56-1
Übersetzer*in
Erdorf, Rolf
Ori. Sprache
Niederländisch
Illustrator*in
Püls, Birgit
Seitenanzahl
52
Verlag
Gattung
Krimi
Ort
München
Jahr
2015
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
13,95 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

1968 wurde der Autor als Zwölfjähriger von einem Mann verführt. “Herr M.” freundete sich zunächst mit Ted an und ging mit seinen sexuellen Handlungen immer weiter, bis Ted die Beziehung abbrach. “Herr M.” verschwand quasi über Nacht aus Teds Leben. 25 Jahre später bittet “Herr M” Ted in einem Brief um Verzeihung. Der kurze Briefwechsel, der daraus entstand, ist die Grundlage zu diesem Buch.

Beurteilungstext

Der 12-jährige Ted mochte “Herrn M.” ehrlich. Er fand bei ihm die Anerkennung und Zuwendung, die ihm zuhause fehlte. Ted hatte das Gefühl, dass sie beide für einander etwas Besonderes waren, und er hatte selbst Interesse an Sexualität. Gewalt, Drohungen oder Erpressung waren nie vorgekommen. Der erwachsene Ted schreibt, er habe die Beziehung jederzeit beenden können, was er ja dann auch tat. Ted van Lieshout hat diese Beziehung heute als Teil seiner Biografie, seiner Persönlichkeit akzeptiert. Die Probleme, die er damit hatte, beruhen seiner Einschätzung nach vor allem auf der Verurteilung durch die Gesellschaft und dem plötzlichen Abbruch des Kontaktes zu “Herrn M.” Dennoch lehnt der Autor sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen wegen des möglichen seelischen Schadens, den das Kind dabei nehmen kann, grundsätzlich ab.
Das, was sich auf wenige sachliche Zeilen komprimiert so einfach anhört, war für den Autor wohl nicht immer so leicht zu fassen. Und die äußere Form des Buches legt nahe, dass es das auch heute noch nicht ist. Lange Passagen des Buches bestehen aus melancholischen, rätselhaften Gedichten, bei denen man viel zwischen den Zeilen lesen muss. Sie repräsentieren wohl den jungen Ted, der versucht, die Beziehung zu seinen Eltern und zu “Herrn M.” zu verstehen und zu einer eigenen Rolle zu finden. Die Gedichte sind eingeschachtelt in den Briefwechsel zwischen dem erwachsenen Ted und “Herrn M.” Der sucht Vergebung, lebt mit Schuldgefühlen, will das Geschehen von damals vor seiner Frau geheim halten. Ted versichert ihm, er habe “nie das Gefühl gehabt, Ihnen etwas vergeben zu müssen.” Dennoch nennt van Lieshout die Dinge nie wirklich beim Namen. Die Leser erfahren nicht, was konkret zwischen ihm und “Herrn M.” abgelaufen ist.
In seinem Nachwort schreibt der Autor: “Dieses Buch (...) habe ich gemacht, um zu zeigen, dass Kinder, die etwas Derartiges erlebt haben, nicht automatisch verloren sind.” Sein eigenes Beispiel betont, dass, wie alles im Leben, auch sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen differenziert betrachtet werden sollten. Ted van Lieshout bringt mit seinem Buch eine unkonventionelle Konstellation in die Betrachtung des sexuellen Kindesmissbrauchs ein: Ein Kind, das stets vorhandene Machtgefälle hin oder her, betrachtet die Beziehung zu dem Erwachsenen als etwas in Summe Positives, kann sie aus eigener Kraft beenden und trägt keinen seelischen Schaden davon. Auch wenn dieser Fall sicher eine Ausnahme darstellt, sollten sich doch all jene, die sich mit Betroffenen beschäftigen, bewusst sein, dass er offensichtlich möglich ist.
Van Lieshouts Texte werden durch sehr schlichte, scharz-weiß-rote Illustrationen ergänzt. Sie wirken technisch wie eine Kombination aus Holzschnitt und Strichzeichnung. Flächige, mächtig erscheinende und schwarz dominierte Bildelemente zeigen Häuser, ein Zimmer oder einen Berg. Ihnen stehen zerbrechlich wirkende Strichmännchen gegenüber, die vielleicht den jungen Ted zeigen. Sie suggerieren Überforderung und Hilflosigkeit.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist fast immer gekoppelt mit körperlicher und/oder seelischer Gewalt. Unerfahrenheit, Machtlosigkeit, Resignation und andere Schwächen der Kinder werden brutal zum Vorteil Erwachsener ausgenutzt. Auch Ted van Lieshout verharmlost Kindesmissbrauch nicht. Sein Buch darf nicht als Freifahrtschein für “nette” Pädosexuelle missverstanden werden, denn so ist es explizit nicht gemeint.
“Sehr kleine Liebe” ist kein Kinder- und Jugendbuch. Es richtet sich an Erwachsene, vor allem an solche, die im weitesten Sinne betroffen sind oder, z.B. als Lehrer, einmal unerwartet betroffen sein könnten und dann vorbereitet sein sollten.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von spra.
Veröffentlicht am 01.07.2015

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