Peanuts und andere Katastrophen

Autor*in
Nielsen, Susin
ISBN
978-3-8251-5338-0
Übersetzer*in
Herre, Anja
Ori. Sprache
kanadisches Englich
Illustrator*in
Schüch, Katja,
Seitenanzahl
240
Verlag
Urachhaus
Gattung
Buch (gebunden)
Ort
Stuttgart
Jahr
2023
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
20,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ambrosius muss erwachsen werden. Er erleidet einige der üblichen Katastrophen auf diesem Weg. Nicht üblich sind Allergie und, dass wieder neue Mitschüler mit Erdnüssen das Mobben bedrohlich weit treiben. Das gute Verhältnis zur alleinerziehenden Mutter und dazu einige ihrer Vorurteile müssen grundsätzlich hinterfragt werden. Es geht nicht immer, den Sohn zu kontrollieren. Stärken müssen noch auf vielen Ebenen erworben werden, auch im Umgang mit neuen Kontakten und bei eigenen Aktivitäten.

Beurteilungstext

Susin Nielsen schreibt überzeugend und erstaunlich leicht über einige mehr oder weniger folgenschwere Katastrophen, die Kindern beim Erwachsenwerden zustoßen können. Manchmal erweisen sich die Begebenheiten rückblickend als Peanuts im übertragenen Sinne, die vielen Kindern so oder etwas anders auch schon geschehen sind. Sie werden das Gelesene als Tröstung empfinden.
Die Peanuts der wirklichen Katastrophe sind hier die realen Erdnüsse. Vor ihnen muss sich Ambrosius schützen, weil er eine schwere Allergie hat. Die Mutter tut daher alles, um den Sohn abzuschirmen. Oft hat das einen Umzug und den damit verbundenen Schulwechsel zur Folge und eine neue prekäre Arbeit für sie selbst. Sie findet als Literaturwissenschaftlerin an verschiedenen Instituten oft nur befristet. Viel Geld für Freizeit steht daher nicht zur Verfügung.
Die wiederholten Schwierigkeiten an der neuen Schule will der Junge ihr dieses Mal daher gar nicht erzählen. Er hat sich eingerichtet, auf dem Schulhof allein zu bleiben und scheint auch in der Regel stark genug zu sein, dies zu verkraften. Seinen Wunsch, dazu zu gehören stellt er zurück. Deutlich wird der aber u.a. mit dem Kauf gut gefälschter Markenschuhe.
Die Regelungen der Mutter akzeptiert er zumeist. Da sein Vater plötzlich vor der Geburt des Jungen starb, versteht er ihre Bemühungen, den Sohn vor allen Gefahren abzuschirmen. Er weiß sie zu würdigen.
Ambrosius ist aufgrund der Situation in vielen Dingen sehr selbständig und seine Mutter kann sich zuverlässig auf ihn verlassen. Daher sind beide bisher ein gutes Team. Sie haben sich eine eigene Welt aufgebaut, in der besondere Fähigkeiten im Scrabble eine große Rolle spielen. Der Wettstreit macht ihnen Spaß und kostet nichts. Ambrosius ist bestrebt, seine Kenntnisse zu erweitern. Das ist allerdings nichts, womit er bei seinen Mitschülern punkten könnte.
Ambrosius fehlen durch die Isolation viele Alltagserfahrungen im Umgang mit anderen Menschen und Situationen. Dies macht sich die Mutter offensichtlich nicht klar. Etwas Anschluss findet er nur bei den griechisch-stämmigen Vermietern mit eigenen, bereits erwachsenen Kindern. Sie laden ihn häufiger ein und zeigen großes Verständnis.
Nach der Schule und auf dem Hof wird er häufig mit den heftigsten Mobbingsituationen konfrontiert. Weder seine Mutter, seine Lehrer noch sein Umfeld belastet er mit diesen Schwierigkeiten. Zum Vertuschen erfindet er sogar Einladungen. Seine Mutter soll dieses Mal denken, dass er sich integrieren konnte. Die drei Jungen, die ihn besonders schikanieren, sind so stark, dass sich niemand mit ihnen anlegen würde.
Die Mutter hat bei der Schulleitung interveniert, dass Erdnüsse an seiner Schule verboten werden. Das bringt seine drei gefürchteten Mitschüler auf den Plan. Weder seine gut gefälschten Turnschuhe helfen ihm, noch ist Rückzug eine Möglichkeit, um sich vor ihnen zu schützen. In der Pause legen sie ihm Erdnüsse zwischen die Brote und verursachen beinahe seinen Tod. Sein Medikament im Spind ist nicht rechtzeitig zur Hand. Er schwebt in Lebensgefahr.
Nahe dem Koma verfasst er seinen eigenen Nachruf. Der zeigt auf selbstironische Weise auch den Tonfall, in dem Susin Nielsen schreibt und ihren Protagonisten erzählen lässt: „Streber ohne Freunde von Erdnuss getötet. Stirbt mit gefälschten Turnschuhen an den Füßen.“ (An anderer Stelle kommt er im Vergleich mit dem Foto seines gleichnamigen Vaters zu dem Schluss. „Was das Aussehen anbetraf, muss ich irgendein rezessives Gen erwischt haben.“)
Nun kommen seine Lügen heraus. Er muss zugeben, dass seine drei Mitschüler ihn mobben. Seine Mutter plant unverzüglich, erneut umzuziehen. Im Gespräch mit der Schulleitung bekommt sie engeren Kontakt zu einem der Lehrer.
Ambrosius lernt zeitgleich, u.a. bei einem erneuten Zwischenfall mit seinen drei Gegenspielern, den meist unerwähnten Sohn der Vermieter, Cosmo, kennen, der bereits im Gefängnis war. Dies muss der Mutter unbedingt verschwiegen werden. Sie hat jeglichen Kontakt verboten. Der viel ältere Cosmo ist auf nicht erklärte Weise von dem Jungen und seiner direkten Sprache fasziniert. Er äußert sich so unverhohlen. Es folgen daher weitere, manchmal skurrile Begegnungen, ein ängstliches Herantasten an den vermeintlich gefährlichen jungen Mann, ein Versteckspiel vor der Mutter. Ambrosius erhält wichtige Lebenshilfen durch genau diesen jungen Mann. Diese gehen von körperlicher Auseinandersetzung mit Gegnern, über Krafttraining, bis hin zu Kommunikationshilfen, wenn Ambrosius sich wieder einmal unangemessen äußert: „Es macht mir nichts aus, anderen Leuten bei der Arbeit zuzuschauen, aber ich habe festgestellt, dass es manchmal ihnen etwas ausmacht, wenn ich ihnen zuschaue.“
Über einen Zufall geraten die Beiden in einen Treffpunkt der Kirchengemeinde, in denen sich eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Scrabble-Spielern trifft, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Die hübsche junge Leiterin Amanda legt Wert auf gegenseitige Achtung und Förderung der Teilnehmer, gleich welchen Alters, welcher Eigenheiten oder Herkunft.
Ambrosius lernt schnell und viel, vor allem Zwischenmenschliches. Er muss seine Schwächen, nicht nur im Spiel, überdenken. Er hat plötzlich harte Konkurrenz. Es gibt viel bessere Spieler als ihn und seine Mutter. Er kann aber schon bald auf höheren Wettkampf-Ebenen mitspielen. Um bei einem großen Turnier zugelassen zu werden, muss der alle Regeln des Turniers beherrschen und zeigen, dass er Mitspieler und Mitspielerinnen unbedingt akzeptiert. Er bekommt schließlich sogar unerwartete Hilfe, um seinen Wortschatz und seine Strategien zu erweitern.
Auch Cosmos früheres Fehlverhalten kann er mit der nun gemeinsamen Freundin einschätzen. Als Leiterin der Gruppe unterstützt sie beide, die sich als Verwandte ausgeben. Für Cosmo ist das eine Notlüge, die noch Folgen für die Beziehung haben wird.
Die Treffen und das überregionale Turnier müssen geheim bleiben, da Ambrosius zu der Zeit zu Hause sein müsste und die Mutter jeglichen Kontakt zu dem Ex-Insassen immer noch verbieten würde. Zum Glück ist sie an diesem Abend verabredet und der Sohn erneut gibt vor, sich an die Regeln zu halten. Er sieht keinen anderen Weg.
Susin Nielsen schreibt aus der Sicht des Protagonisten, der selbstkritisch, witzig und dabei selbstironisch kommentiert. Die Dialoge sind immer authentisch und die Situationen, in die die Protagonisten – einschließlich der Mutter – geraten, sind sehr gut nachvollziehbar und verweisen auf eigene blinde Flecken. Ironischerweise war das Thema der literarischen Doktorarbeit der Mutter: „Die Auswirkungen einer Kindheit in Isolation auf die Vorstellungskraft der Bronte-Schwestern“, wodurch sich eine zusätzliche Ebene der Erzählung ergibt.
Die Autorin, über die sie schreibt, lebte in gänzlich anderen Zeiten. Sie wird aber noch gelesen und auf sie wird sowohl szenisch, literarisch als auch in der Popmusik noch häufig verwiesen. Obwohl der Text in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, „hört sich das nicht unbedingt nach einer fesselnden Lektüre an“, findet der Sohn „ohne Mom zu nahe treten zu wollen“. Theorie und Praxis folgen jeweils anderen Bedingungen und hängen von eigenen Erkenntnissen ab..
Es gibt weitere originäre Buchhinweise über die Protagonisten, die damit einen kleinen Einblick in deren Leben bzw. Denken gewähren und zu eigenen Recherchen beim Lesen herausfordern können. Das gelingt Nielsen über das Interesse an den Personen und zeigt, dass das Konzept der Autorin trägt.
Die Sprache der Figuren ist oft selbstreflexiv. Es gelingt glaubwürdig, zunächst gescheiterte Karrieren zu schildern, die zum Glück Auswege für Veränderungen offen lassen. Es gibt anscheinend unterschiedliche Wege für ein eigenes verantwortungsvolles Leben.
Dies kann für mehrere Personen der Erzählung gelten. Neben Ambrosius profitiert nicht nur Cosmo. Die durch Lügen gefährdete Beziehung zur wichtigen Figur Amanda lässt sich vielleicht wieder behutsam anbahnen. Cosmo kann Arbeit wieder finden. Ehrenschulden können abgearbeitet werden.
Die Mutter ist in ihrem Rahmen lernfähig. Die fest im Leben stehenden Nachbarn bleiben zuverlässige Menschen für den Jungen, seine Mutter und nicht zuletzt die eigenen Kinder.
Formal wird auch über die Überschriften der Kapitel Interesse aufgebaut. Jede erscheint dick gedruckt auf zweierlei Weise: Zunächst nur als Buchstabensammlung als Phantasie-Begriff (wie auf der Spielleiste eines Schrabble-Spiels) mit darunter aufgelisteten Möglichkeiten von sinnvollen Zusammensetzungen und schließlich der geordneten Überschrift.
L A G I R L E E
aller, Galle, rege, liege, giere, Ei, gar, leger, Eile, Lager, Elle, geil,
Allee, Geier, Liga, erlag, real
ALLERGIE
Folgt man den Angeboten, setzen sie weitere Assoziationen zum Inhalt und zum eigenen Spiel frei. Welche Möglichkeiten finden sich zusätzlich noch? Die Begriffssuche ist daher auch als Metapher zu lesen für das Suchen nach Sinn oder weiteren möglichen Strategien. Mal kann die Entscheidung hohe mal weniger hohe Punktzahlen zur Folge haben. Sie könnte auch die Leichtigkeit darstellen, mit der in geglückten Momenten Vieles als Spiel verstanden werden kann. Nicht immer ist der Sieg garantiert.
Die Erzählstränge werden auf allen Ebenen durchgehalten und in Reflexionen durchgespielt, was das Buch zu einer lohnenden, spannenden Lektüre macht. Es gibt viel in den Charakteren und in der Sprache zu entdecken und weiterzuentwickeln.
Vor dem eigentlichen Text hat Katja Schüch eine Doppelseite gestaltet, die Ambrosius im Vordergrund darstellt, mit Cosmo bei seinem Fahrzeug im Hintergrund. Beide Personen spiegeln sehr gut die jeweiligen Haltungen wider und die Konflikte. Es gibt (noch) keine Farben, nur unterschiedliches Grau, auf hellem Grund. Dazu übergroße und kleine Ansammlungen von Erdnüssen, zumeist noch in der Schale. Im Buch finden sich an vielen verschieden Stellen kleine Vignetten von zwei Früchten. Geschlossen und geöffnet, eine ohne Haut. Es bleibt zu überprüfen, wo sie eingefügt wurden. Sind es Hinweise zu kleineren Katastrophen, die leicht überlesen werden können (wie z.B. das erste aussichtslose Verliebt- Sein oder der Wunsch nach etwas Größerem, der oft nicht erfüllt werden kann? Die Zeichnungen treffen den Kern.

Anmerkung

Mein Tipp: Der Text ist mit all seinen Figuren und Konflikten eine sehr gute Grundlage für offene Rollenspiele.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 06.05.2023

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