Nacht, komm - Thriller

Autor*in
Hammer, Agnes
ISBN
978-3-407-74495-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
314
Verlag
Gattung
Krimi
Ort
Weinheim
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
8,95 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Lissy ist zu 120 Sozialstunden verurteilt worden, die sie in einem Altenheim ableisten soll. Dort freundet sie sich mit einer jungen Schwester an und lernt über sie Daniel kennen. Die Freundin wird ermordet, Lissy gerät wegen der Vorstrafen in Verdacht. Daniel sieht in ihr nur den Sex und verhält sich auch sonst unbegreiflich. Ihr Vater stirbt an seinem Alkoholismus und dessen obdachlose Freunde sind nur wenig hilfreich. Lissy setzt sich gegen allerorts vorhandene Vorurteile durch.

Beurteilungstext

Es müsste ein Verbot geben, ein Buch als ""Thriller"" zu vermarkten - aber auch Verlage leben von der freien Marktwirtschaft. Dies jedenfalls ist kein Thriller, dazu fehlt ihm die nötige Dynamik und innere Spannung. Überhaupt ist die Frage, für wen denn eigentlich dieses Buch gedacht ist - was nicht heißen soll, dass es nicht lesenswert wäre, aber davon später. Agnes Hammer erzählt eine Geschichte aus dem Düsseldorfer Prekariat. Früher nannte man das einmal das Subproletariat: eine Gesellschaftsschicht, die ohne jedes Bewusstsein für ihre Situation und deren Ursachen lebt. Die Protagonistin Lissy ist Tochter eines von der Familie getrennt lebenden Alkoholikers und Obdachlosen, die Mutter hat gerade mal wieder einen Job, sie selbst muss einen Sozialdienst ableisten, weil sie mehrfach gewalttätig wurde, geklaut hat. Ihre Schule schließt sie in der Zeit der erzählten Handlung ab - oder eben nicht: sie bekommt das Abgangszeugnis nach der 8. Klasse, unbenotet, sie hat ihre Schulpflicht erfüllt und ist gerade noch nicht volljährig. Eine wirkliche Kunst ist es, wie die Autorin eine Stimme für ein Mädchen findet, das kaum weiter als bis zum nächsten Tag denken kann, Sex für Liebe hält und überhaupt nicht weiß, was sie im Leben will. Und ausgerechnet der Tod der einzigen wirklichen Freundin, die sie erst seit ein paar Tagen kennt, bringt sie dazu, über sich hinaus zu wachsen. Und sie merkt das nicht einmal, wohl aber die Autorin und damit die Leser. Der zweite Protagonist, Daniel, sieht (in Lissys Augen, und nur mit denen können wir ihn sehen) blendend aus und kommt sofort zur Sache. Sein Vater bezeichnet ihn als dumm, was ihn nicht daran hindert, den Sohn zu lieben. Daniel kann kaum zählen, weder lesen noch schreiben und muss alle nötigen Prüfungen deswegen mündlich ablegen (ich habe keine Ahnung, ob man tatsächlich auf diese Weise sogar seinen Führerschein machen kann wie Daniel). So wird er nie den gut gehenden Autoreparaturbetrieb des Vaters übernehmen können. Daniel lebt noch mehr als Lissy nur für den Augenblick und den Aufbau seines muskulösen Körpers.
Lissy ist schon mehrschichtiger. Der Sozialdienst im Altenheim gefällt ihr außerordentlich, ihre Empathie für die großenteils dementen Alten ist ungewöhnlich ausgeprägt. Die gleiche Empathie zeigt sie gegenüber den obdachlosen Kumpels des Vaters, alle sind Stadtoriginale mit dem einschlägigen Geruch, den jeder aus der City kennt inclusive der permanenten Alkoholfahne. Lissy kennt keine Berührungsängste, kennt die Gestrandeten genau und versucht stets, ihnen in irgendeiner Weise zu helfen, auch wenn sie weiß, dass das wenig helfen kann - ihr Vater stirbt schließlich nach einem vergeblichen Entzugsversuch.
Lissy ist eigentlich gut vernetzt, kann das aber gar nicht erkennen. Das hilft ihr in dem Augenblick, in dem sie als Verdächtige in den Mordfall ihrer neuen Freundin gezogen wird. Hilflos und aggressiv reagiert sie immer falsch; der ermittelnde Kriminalbeamte sieht den Fall vor lauter Ressentiments gegenüber der Familie Lissys nicht, und in diesem Moment wächst das Mädchen weit über sich hinaus. Sie sieht nur eine Chance für sich: den Mörder selbst zu finden. Sie legt eine Beharrlichkeit an den Tag, die ebenso nachvollziehbar wie notwendig ist, um über die vielen Stolpersteine an das Ziel zu kommen. Das geschieht selbstverständlich nicht ganz undramatisch, ist sowohl interessant als auch einigermaßen spannend - nur zu einem Thriller gehört mehr. Ob das dann besser wäre, sei dahin gestellt.
Nun die Frage: für wen ist das eigentlich geschrieben?
Ich schreibe hier Empfehlungen für Jugendbücher, nicht allgemein gültige Rezensionen. Man könnte sagen, Lissy wäre die Identifikationsfigur für Jugendliche, die aus dem Milieu kommen, das vergleichbar mit dem Lissys wäre. Aber das sind gerade diejenigen, die mit Sicherheit überhaupt nicht lesen - symptomatisch dafür ist Lissys Schwarm Daniel, der gar nicht lesen kann. Und andere Jugendliche empfinden eher eine solide Abneigung gegenüber der sehr treffend beschriebenen Geruchs-, Alkohol- und Hartz-IV-Welt, als dass sie sich durch den anfangs ruhig dahin plätschernden Alltag Lissys wälzen würden. Anders sieht es aus, wenn es um Erwachsene geht, wobei dieser Begriff nach unten offen ist. Wer sich mit der Welt einer Großstadt auseinanderzusetzen bereit ist, trifft in dem Roman auf eine Sozialstudie voller Selbstverständlichkeiten und in ihrer Selbstverständlichkeit zeigen Lissy und ihre (hier nicht genannten anderen Freundinnen), was alles notwendig ist, um sich in der von vielen als feindlich empfundenen Welt bestehen zu können. Man muss sich nicht als Freundin Lissys fühlen, aber eine Hochachtung muss man gegenüber ihrem Durchstehvermögen, ihrer Geradlinigkeit und ihrem selbstverständlichem Humanismus einfach aufbringen. Man könnte ihr das zwar nicht so mitteilen, aber sie hätte ein gutes Gespür dafür, ob man ihr mit der Achtung begegnet, die sie unvoreingenommen Jedem gegenüber hat.
Großstadt von unten, wie ich es noch nicht gelesen habe. Cjh14.08

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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