Froschmaul. Geschichten

Autor*in
Steinhöfel, Andreas
ISBN
978-3-551-31867-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Schössow, Peter
Seitenanzahl
134
Verlag
Carlsen
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Hamburg
Jahr
2019
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
5,99 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Was tun, wenn der ungeliebte Mitschüler droht, im See zu ertrinken? Wenn man von der Klassenkameradin im Zeichensaal der Schule gekidnappt wird, weil sie einen Kuss erpressen will? Wenn sich die Erde auftut und Daniel darin verschwindet? Oder wenn das Auto am Weihnachtsabend in eine Schneewehe kippt und bei der Mama die Wehen einsetzen? Andreas Steinhöfel bietet in seinen acht Geschichten nicht immer Antworten – aber er lässt weder seine Protagonisten noch die Lesenden mit den Fragen allein.

Beurteilungstext

„Froschmaul“ heißt der kleine Band mit Geschichten, die zuerst in verschiedenen anderen Sammlungen zwischen 1997 und 2006 erschienen waren und hier vom Carlsen-Verlag als Sammlung erneut vorgelegt werden. Steinhöfel braucht sicherlich nicht explizit vorgestellt zu werden – seit Anfang der neunziger Jahre gehört er zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren; 2009 erhielt er für „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ den Deutschen Jugendliteraturpreis zuerkannt. Die Helden jedes Einzeltextes werden durch Vignetten – kleinen Schattenrissen - von Peter Schössow grafisch eingeführt; wobei es dem Künstler gelingt, äußerliche Charakteristika sanft und witzig, aber ohne jede Bloßstellung zu verdeutlichen.

Es sind die klassischen Heranwachsenden-Themen, denen sich die Texte widmen: Die Suche nach Freundschaft und Zugehörigkeit, Selbstfindung und Selbstzweifel, der fassungslose Blick auf die Erwachsenen und ihre mitunter schwer verständlichen Verhaltensweisen. Steinhöfel geht diese Themen mit viel Ernsthaftigkeit an, er ordnet sie in der ganzen Relevanz ein, die sie im Seelenleben von Kindern an der Schwelle zur Adoleszenz besitzen.

An dieser Stelle sollen einige der Erzähltexte kurz dargestellt werden.
Elmer ist dick geraten, schwerfällig und penetrant; Freunde versucht dadurch zu gewinnen, dass er anderen die prallgefüllten Süßigkeitentüten unter die Nase hält, ohne die er nie zu sehen ist: „Willste Lecker?“ Der namenlose Erzähler möchte ebenso wenig mit ihm zu tun haben wie die anderen Kinder. Eine schockierende Aktion Elmers bringt ihn dazu, über seine Grenzen zu gehen und aktiv die Freundschaft zu ihm zu suchen.
Winnie blickt dem Urlaub mit Grauen entgegen – die kleine Schwester nervt und die Eltern haben sich nur dann etwas zu sagen, wenn sie dem jeweils anderen Vorwürfe machen können. Die Rettung kommt unverhofft – es ist kein Alien, der im Maisfeld hinter dem Parkplatz raschelt; es ist ein ausgesetzter Hamster. Das Tier schafft es, die Klüfte in der Familie wenigstens für eine Weile zu überbrücken.

Zwei Geschichten weisen ausgeprägte intertextuelle Bezüge auf. „Novemberwind“ zur Sage des „Rattenfängers von Hameln“, was das Verschwinden der Kinder der Stadt angeht. Die Geschichte bildet in gewisser Art einen Kontrapunkt zu den anderen Texten. Der Plot ist ausgesprochen geheimnisvoll, die Atmosphäre sehr düster. Ein neuer Schüler kommt in die Klassen der Erzählerin oder des Erzählers. Adrian sagt fast nie etwas. Er wird neben Daniel gesetzt, den klügsten Jungen der Klasse, mit dem niemand etwas anfangen kann. Die Sensation: Die beiden verstehen sich auf Anhieb und entwickeln eine beinahe telepathische Beziehung. Schließlich kommt es zu Katastrophe, als Daniel in den Schacht eines stillgelegten Bergwerks einbricht. Gibt es ein Happy-End? Eher löst sich die Geschichte in einem Mysterium auf und hinterlässt im Leser ein verstörendes Gefühl.
„Helle Nacht“ erzählt eine berührende Weihnachtsgeschichte. Benni, seine Schwester Lena und die hochschwangere Mutter sind auf dem Weg in ein Frauenhaus. Beim ständig betrunkenen Vater hatten sie es nicht mehr ausgehalten. Es schneit und stürmt, der Wagen gerät auf einer einsamen Landstraße ins Schlingern und fährt in den Graben. Eine Scheune in der Nähe wird mit Mühe erreicht – darin findet die kleine Familie drei Obdachlose vor. Bei der Mutter setzen die Wehen ein; zum Glück ist einer der Landstreicher ein ehemaliger Krankenpfleger. Eine Geschichte, die überdeutlich an die Weihnachtsgeschichte bei Lukas erinnert. Eine Erzählung von Solidarität, Hoffnung, Füreinander-Einstehen und Wachsen an Herausforderungen – eine wunderschöne Erzählung.

Die anderen Texte erzählen vom Selbstbehauptungswillen von Kindern, deren Umwelt ihnen immer wieder ihre Andersartigkeit spiegelt und die sich dagegen zur Wehr zu setzen wissen.
Alle Geschichten folgen der Tradition der klassischen Kurzgeschichte; einer Gattung, die im Nachkriegsdeutschland ihre größten Erfolge feierte, in den letzten drei Jahrzehnten jedoch ein wenig „aus der Mode“ gekommen ist. Die Texte sind sorgfältig gearbeitet, die Handlung ist sehr verdichtet und die Sprache knapp und präzise. Es gelingt Steinhöfel, die Protagonisten mit wenigen Sätzen individuell und anschaulich zu charakterisieren. Häufig schwingt ein ironischer Unterton mit, der aber nie zu Lasten der Figuren geht, sondern liebevoll und empathisch daherkommt: „Sie konnte nicht singen, aber mir gefiel die Begeisterung, mit der sie es nicht konnte.“ (S. 8) Die Texte sind durch den knappen Sprachgestus, der auf überflüssige Beschreibungen verzichtet, pointiert und dicht. In der Regel bleibt ein offenes Ende zurück, welches der Leserfantasie viel Raum für eigene Fortschreibungen bietet.

Erzählt wird häufig aus einer auktorialen Perspektive; teils auch mit einem Ich-Erzähler. Interessant ist der Wechsel der Erzählperspektive in „Aus dem Äther“ – die gesamte Geschichte ist auktorial dargestellt, wobei der Erzähler eine recht große Distanz zum Protagonisten („der Junge“ bzw. „Du da“) hält. Auf der letzten Seite wechselt die Erzählperspektive ins Ich – es wird klar, dass ein erwachsener Erzähler auf seine eigene traurige Kindheit und die daraus erfolgte Befreiung zurückblickt.

Auffallend sind die große Sympathie und der Respekt, mit der der Autor seinen Figuren gegenübersteht. Er nimmt ihre Probleme ernst, verniedlicht und relativiert nicht, schreibt keine „Wohlfühltexte“; bietet aber auch immer Entwicklungs- und Lösungsmöglichkeiten für schwierige Lebenssituationen an.

Offen muss die Frage bleiben, ob es sich eher um Geschichten handelt, die Erwachsenen vielleicht mehr gefallen als Lesern im Alter der Protagonisten. Die Texte weisen eine große Komplexität auf, die Lesende im Alter von 10 bis 14 Jahren eventuell überfordern könnte. Nichtsdestoweniger ist der Band uneingeschränkt empfehlenswert. Es wäre aber anzuraten, die Lektüre zu begleiten und den Prozess der Erschließung zu unterstützen.

Jörg Kassner

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gre; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 02.01.2020

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