Einundzwanzigster Juli

Autor*in
Voorhoeve, Anne C.
ISBN
978-3-473-35293-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
348
Verlag
Ravensburger
Gattung
Ort
Ravensburg
Jahr
2008
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Das letzte Kriegsjahr verbringt die 14-jährige Ich-Erzählerin auf der Flucht: erst vor einem Mord, dann aus dem von Bomben bedrohten Berlin, danach in Gefangenschaft, in die sie als Familienangehörige der Attentäter vom 20. Juli 1944 gerät. Die Odyssee durch Gefängnisse und KZs macht der sporadische Kontakt zur heldenhaften Tante Lexi und deren mehr moralische als reale Hilfen erträglich. Ein Überleben gibt es nur, weil die Familiengruppe zusammen hält und die Nazis sie als Geiseln benutzen.

Beurteilungstext

Anfangs irritieren die Namen: Die Stauffenbergs heißen hier Lautlitz, während fast alle anderen Namen direkt genannt werden. Ein Stammbaum der fiktiven und der der realen Familie Stauffenberg auf Vor- und Nachsatz zeigt geringfügige Unterschiede, die deutlich machen: es geht hier nicht um reine Biografie, sondern um einen Roman, der versucht das Typische aufzuzeigen. Tagebuchartig schreibt das 14-jährige Mädchen von seiner Verwirrung: Der Tod eines polnischen “Fremdarbeiters” treibt sie aus dem Mädchenlager in Ostpreußen zurück zur Mutter. Irgendwie ist sie schuld am Tod, weiß aber noch nicht recht, inwieweit sie sich schuldig gemacht hat. Auf alle Fälle aber spürt sie, dass der Tod eines Menschen etwas so Grundlegendes ist, dass er nicht einfach hingenommen werden kann. Bis auf die letzten Seiten zieht sich ihre Sinnfindung, erst am Schluss erfährt der Leser, was geschah. Dazwischen aber bricht eine Welt zusammen: Zwei ihrer Onkels sind direkt am Attentat auf Hitler beteiligt, der Krieg beschleunigt sich virulent und Fritzi durchläuft Gefangenschaft und Transporte mit vielen Toten: Verwandten, Freunden und Fremden.
Das scheinbar wohlorganisierte Dritte Reich entpuppt sich als zunehmend chaotisch, die eine Behörde weiß nichts von der anderen, partikulare Interessen überlagern scheinbar objektive, am Schluss bekriegen sich Wehrmacht, SS und Gestapo direkt bei der Sicherung der für sie wertvollen Geiseln: nicht nur die vom 20. Juli, sondern auch der griechische Generalstab, Schuschnigg, André Blum, Pastor Niemöller und viele andere verhaftete Prominente.
Die zunehmende Oberhand der Alliierten macht jede Bewegung der großen Gruppe gefährlich, jeder Aufenthalt in Gebäuden ohne Luftschutzraum ist es ebenso. Immer wird die Gruppe in Nebenlagern der großen KZs abgesondert, ihr bleibt aber das unendliche Verbrechen nicht verborgen, zu nah sind sie daran.
Allein die Tante Fritzis, die Pilotin Lexi, die den Nazis zu wichtig ist, um sie dorthin zu bringen, wo sie sie eigentlich haben wollen - ins KZ - kann noch Hilfsflüge leisten: als Testfliegerin der Stukas hat sie freien Zugang zu allem, was fliegen kann und bis in die letzten Kriegstage fliegt sie immer wieder an den jeweiligen Aufenthaltsort, bekommt Zugang zu den Gefangenen und versorgt sie mit Notwendigstem und vor allem schafft sie Kontakte, vermittelt Nachrichten von Totgeglaubten, überbringt so den Mut zu überleben (Diese phänomenale Frau hieß in Wirklichkeit Melitta Schiller, verheiratet mit einem Bruder Claus Schenk von Stauffenbergs).
Für Fritzi ist diese Tante, die so gar nichts Tantenhaftes an sich hat, der wichtigste Mensch. Sie hat sich vor der Inhaftierung intensiv mit ihr auseinandergesetzt, Lexi erst zeigte ihr das Wesentliche: Sich aktiv in das Geschehen einzumischen. Immer wieder unterhält sich das geistig schnell wachsende Mädchen mit ihrem Vorbild in Gedanken - um so größer ist der Schock, als sie erfährt, dass Lexi in den letzten Kriegstagen von einem Amerikaner abgeschossen wurde.

Die Autorin hat einen großen Abstand zum Leben im Dritten Reich. Nur so ist wohl möglich, ein derart genaues Bild vom Innenleben der Menschen dieser Zeit zu zeichnen. Fritzi ist anfangs nur verunsichert, nicht aber zweifelt sie ernsthaft an den Zielen des Dritten Reichs. Sie ändert sich aber stetig - und gerät in ihrer Familie immer wieder auf Menschen, die hemmungslos gegen den Führer und seine Verbrechen reden, die aber auch sicher sind, dass die Familienbande verhindern, dass sie jemand denunzieren könnte. Erst nach und nach erfährt Fritzi vom Attentat, schnell aber von der Reaktion des Reichs. In der Familie wird nicht eine einheitliche Meinung vertreten, fast alle Männer sind Militärs, die geliebte Tante testet sogar die Schreckenswaffe Stuka, auf dass sie effektiver werde. Aber in einem sind sie sich sicher: der Krieg ist verloren und es muss etwas geschehen. Die beiden Hauptbeteiligten treten nicht auf, sie sind von Fritzi zu weit entfernt. Erst spät erkennt sie, dass sie sie gern kennen gelernt hätte.
So vermeidet die Autorin das, was den Tom-Cruise-Stauffenberg-Film scheitern lässt: vor lauter Nähe nichts mehr zu zeigen. Die Stauffenbergs wären aus der heutigen Sicht leicht zu kritisieren, so nah am Ziel aber war kein anderer Mensch. Dass der überlebende Bruder später Georg Eiser als “Mann aus dem Volke” lobt, passt in diesen Rahmen, ist aber wohl übertrieben. Ich glaube nicht, dass ein vor gut hundert Jahren geborener Offizier einen solchen Menschen überhaupt zur Kenntnis genommen hätte. Aber ich irre mich hier gern.

Geschichte wird durch die begleitende Lektüre von Büchern wie diesem erst lebendig. Um zu verstehen, was es heißt, in einem totalitären System zu leben, im Krieg, in Gefangenschaft, unter ständiger Todesgefahr, sind derlei Bücher notwendig.
Dass es aber auch nicht ganz einfach ist, alles zu erklären, zeigt die Autorin mit ihrer Heldin. Immer wieder sucht sie Gespräche, Rat, sie orientiert sich an den Erwachsenen und wächst daran. Uns alten fehlten diese Gesprächspartner in der Elterngeneration: Nur wenige Beteiligte waren bereit, wirklich offen über ihre Nazivergangenheit zu reden. Die jungen Menschen von heute kennen gar keine mehr. Und die Filme sind eher fragwürdig (s. Tom Cruise etc.). Dieses Buch gehört in die Hand jedes Mädchens, das bereit ist, sich dem Leben zu stellen. Und in die Hand der übrigen Menschen auch.

Irritation ist m.E. das Hauptanliegen der Autorin: Ihre Heldin ist begreiflicherweise irritiert, vom Geschehen, von den Menschen um sie, von sich selbst (besonders hier ihre schwankende Zuneigung zu ihrem Onkel - einerseits ist er DER Mann für sie, sie liebt ihn und gleichzeitig seine Frau Lexi, andererseits ist er ein unerreichbares Idol, Gesprächspartner und Vorbild. Wie es Pubertierenden so oft geht, weiß sie nicht, was überwiegt). Der Leser wird irritiert durch den Beginn und die Haltung der Heldin, erst nach fast 50 Seiten fasst sie einen Entschluss, der bis zum Ende der Lektüre trägt.
Und der Titel? Kulminationspunkt ist der 20. Juli. Gemeint ist aber der 21. Juli 1945. An diesem Tag wird die deutlich gereifte Fritzi 15 Jahre alt.

Nachtrag. Etwas ärgerlich finde ich, dass der Lektorin einige marginale Kleinigkeiten entgangen sind: Auf S. 19 gibt es eine Stromsperre, das Radio aber läuft noch und die Grundschule hieß damals Volksschule, Albstadt erhielt seinen Namen erst 1975. Auf S. 182: “Wir dürfen (In der Gefangenschaft, cjh) Briefe schreiben. Ohne Angabe des Absenders...die Gestapo leitet unsere Post an die Adressaten weiter”. Gemeint ist wohl, dass die Gestapo kontrolliert und einen chiffrierten Absender einträgt und Antworten an die richtige Adresse leitet.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von cjh08.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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