Dunkelnacht

Autor*in
Boie, Kirsten
ISBN
978-3-7512-0053-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
128
Verlag
Oetinger
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
13,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Mit „Dunkelnacht“ gelingt es Kirsten Boie, auf erzählerisch und literarästhetisch verstörende Weise von den selbst im Grausamkeitsstrudel der NS-Zeit unfassbaren Ereignissen der sogenannten „Penzberger Mordnacht“ zu erzählen.

Beurteilungstext

Die letzten Tagen und Wochen des Zweiten Weltkriegs wimmeln vor grausamen Ereignissen, denen angesichts der unmittelbar bevorstehenden Friedenszeit eine besondere Form der Widerwärtigkeit und Unfassbarkeit anhaftet. Zu diesen zählen die sogenannten „Endphaseverbrechen“, in denen fanatische Nationalsozialisten beispielsweise auf Todesmärschen KZ-Insassen in den sicheren Tod schickten, angebliche Wehrkraftzersetzer willkürlich umbrachten oder in Himmelfahrtskommandos steckten – oder kurz vor Einmarsch der Alliierten vor Ort noch so viele Widerständler wie möglich hinrichteten. Eine solche Racheaktion ereignete sich in der Mordnacht von Penzberg am 28. und 29. April 1945: Als die antifaschistischen Stadtbewohner angesichts des bevorstehenden Einmarsches der Alliierten die Verwaltung der verschlafenen südbayerische Bergwerksstadt übernahmen, wurden 16 von ihnen kurzerhand von nazistischen Überzeugungstätern aus Werwölfen (einer Untergrundorganisation, die auch nach dem Fall des "Dritten Reichs" die Besatzung unterwandern wollte) und Angehörigen von Wehrmacht und SS öffentlich hingerichtet – einen Tag, bevor US-Truppen in der Kleinstadt eintrafen.
Um die Penzberger Mordnacht, die im kulturellen Gedächtnis der NS-Zeit bisher kaum eine Rolle spielte, dreht sich Kirsten Boies Erzählung „Dunkelnacht“. Auf Grundlage intensiver Recherchen vor Ort erzählt sie die dramatischen Stunden nach, wobei die erzählte Zeit sich vom Abend des 27. April bis zum Vormittag des 29. April erstreckt. Im Fokus stehen die (fiktionalen) Jugendlichen Schorsch, Gustl und Marie. Beide Jungen sind in Marie verliebt, deren Vater zu Beginn der Handlung mit anderen linksgerichteten politischen Kräften die Verwaltung der Stadt an sich nimmt. Gustl ist fanatisch der NS-Ideologie verfallen und will bis zum letzten Atemzug gegen den „Feind“ kämpfen, sodass er sich auch dem Lynchmob der „Werwölfe“ anschließen wird. Das NS-Weltbild des Polizistensohnes Schorsch bröckelte hingegen nach und nach – und angesichts der Geschehnisse letztlich vollkommen.
Über ihre Eltern sind die Jugendlichen verwoben mit den Ereignissen der folgenden Stunden, die abwechselnd aus der Perspektive der Jugendlichen und verschiedener Erwachsener auf beiden Seiten berichtet werden. Am Ende bleiben viele tote Menschen, eine Stadt, deren Sozialgefüge auf Jahrzehnte hinaus zerstört ist – und auf beiden Seiten die Fassungslosigkeit gegenüber dem, was passiert ist.
Im dokumentarischen Duktus, in einem bewusst nüchternen Tonfall kompiliert Boie auf den 128 Seiten von „Dunkelnacht“ ein Kaleidoskop der Ereignisse der Mordnacht, ergänzt um ein ausführliches Nachwort und ein Glossar zu einschlägigen Begriffen. Konsequent sind die Teilkapitel intern fokalisiert, wir lesen von den inneren Monologen der Figuren, die teils aktiv am Geschehen mitwirken, teils zunehmend fassungslose und doch machtlose Beobachtende sind. Boie übernimmt dabei die Sprache, das Denken der jeweiligen Figuren, und sie beschreibt das Geschehen in brutalen – und für kindliche Lesende auf jeden Fall verstörenden – Details. So spürt Gustl, der Überzeugungstäter, am eigenen Leibe, wie sich die Realisierung seiner Mord- und Rachephantasien anfühlt:
„Der Gustl hat sich übergeben. War ja noch nie dabei, wenn ein Genick bricht, das wilde Zappeln sekundenlang, bevor es zu Ende ist, bis die Zunge aus dem Mund hängt, das Gesicht blau wird. So also ist der Tod. So ganz ohne Würde. Und dann schon der Nächste, der Nächste […] Er hat sie gekannt […] Waren alle Verräter. Und waren doch auch Volksgenossen, waren deutsche Volksgenossen. Waren keine Jungen, keine Untermenschen im Osten, waren Deutsche. So hat er es sich nicht vorgestellt.“ (S. 97)
Gerade auf Grund dieser Details, auf Grund des nüchternen Tonfalls, auf Grund der Übernahme wechselnder Perspektiven, auf Grund der Kürze des Texts ist „Dunkelnacht“ eine zutiefst verstörende Lektüre. Sie berichtet nicht von den auf Grund ihres schieren Umfangs monströsen Ereignissen und Taten der Judenermordnung, sie berichtet nicht vom Schlachtfeld an der Front, sondern von einem Ereignis, dessen 16 Tote angesichts der Abermillionen Opfer des Zweiten Weltkriegs geradezu vernachlässigbar wirken. Und doch entfaltet gerade der Mikrokosmos der Grausamkeit, dem sie sich hier widmet, eine ganz eigene Wirkung. Die Penzberger Mordnacht (und Boies Art der literarischen Aufbereitung) wirkt wie ein Brennglas auf die Unmenschlichkeit des "Dritten Reichs", auf den Mahlstrom der Bösartigkeit, den das Hitlerregime entfacht hat.
Das macht „Dunkelnacht“ geradezu zur Pflichtlektüre im Geschichtsunterricht bzw. zur Pflichtlektüre für alles, die sich für die literarische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs interessieren. Und doch ist die Lektüre nicht für Jede*n: Ab 15, 16 Jahren würde ich die Lektüre empfehlen; und auch dann sollte im Vorfeld klar kommuniziert werden, was auf die Lesenden zukommt.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Philipp Schmerheim; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 14.09.2022

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