Die Quersumme von Liebe

Autor*in
Zipse, Katrin
ISBN
978-3-7348-5011-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Magellan
Gattung
Ort
Bamberg
Jahr
2015
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
16,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Selbst jetzt, während ich versuche zu verstehen, was passiert ist, [...] werde [ich] doch nie richtig beschreiben können, wie es sich anfühlt, wenn man zu einem Wesen geworden ist, [...] das keine Vergangenheit mehr hat, keine Gegenwart und keine Zukunft. Wenn man komplett ausgelöscht ist, weil man nicht mehr weiß, wer man ist.“ (85) Zipse entwickelt in ihrem Roman ein beachtenswertes Psychogramm der Suche nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und dem eigenen Selbstverständnis. Ein echtes Leseerlebnis.

Beurteilungstext

Eigentlich hätte der Tag, an dem alles beginnt, ein guter Tag werden müssen. Luzie ist 19 Jahre und es ist der Tag 3340 in ihrer Zeitrechnung. Die Quersumme von 3340 ist 10. Und wenn man die Ausgangszahl durch die Quersumme teilt, geht die Rechnung glatt auf: In Luzies System ein Zeichen für ideale Bedingungen. Schlechte Bedingungen sind gegeben, wenn die Rechnung erst hinter dem Komma aufgeht. Eine Katastrophe ist zu erwarten, wenn die Rechnung nicht aufgeht – nicht einmal im Unendlichen. Aber an diesem Tag, dem 3340. versagt das komplexe System der Zahlen nach 10 erfolgreichen Jahren und markiert das Ende der Kindheitswelt.
Wenn man jetzt vermutet, dass Katrin Zirpse, die für ihren ersten Roman ‚Glücksdrachenzeit’ mit dem renommierten Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde, ein Buch über eine Zahlenmystikerin geschrieben hat, dann irrt man sich gewaltig. Aber was hat es mit den Zahlen dann auf sich?

Bei diesem Buch darf man vom Inhalt eigentlich nichts vorwegnehmen, denn die Autorin erbaut in dem Roman einen filigranen Eingangstorbogen in die Erwachsenenwelt, der sich nur trägt, wenn die letzte Information als Schlussstein das Gewicht aufnehmen kann. Soviel aber sei gesagt: Luzie findet einen Brief, der gleichsam einen losen Faden in einem kunstvollen Lügengespinst darstellt. Luzie beginnt an dem Faden zu ziehen und ribbelt das Netz, das sie all die Jahre getragen hat, langsam auf: „Was danach kam? Blöde Frage. Der freie Fall. Was sonst?“ (15) Und in diesem Lügennetz der Vergangenheit stehen die Zahlen und das Rechnen für etwas Rationales. Sie sind ein typisches Bild für die Suche nach Halt und Sicherheit. Sie sind ihre Rettungsanker gegen die Panik, wenn sie sich in der Wirklichkeit zu verheddern droht. Denn wenn sie dies tut, dann passiert das Folgende: „Ich stand zwischen den Gräbern und spürte, dass das Wasser kam. Weil da etwas war, was nicht sein konnte, aber es war trotzdem da. Und ich konnte es nicht verstehen. Als ob die Wirklichkeit plötzlich nicht mehr wirklich war. Als ob Logik keine Rolle mehr spielte.“ (55-56) Sätze wie dieser lassen mit Macht aufblitzen, dass die Autorin in der ersten Liga des psychologischen Realismus mitspielt. In intensiver Weise macht Zipse die verzweifelte Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Welt der Erwachsenen erlebbar. Kunstvoll lässt sie Luzie Wortbilder finden, die näherungsweise ihre Gefühlswelt ausdrücken können und die Leistung poetischer Sprachverwendung deutlichen machen.

Der Plot, dass ein adoleszenter Protagonist erkennt, dass die Kinderwelt eine Traumwelt ist, kann nicht als neu bezeichnet werden. Aber die Suche nach der Wahrheit hinter den Lügen wird von Zipse erzählerisch auf schönste Weise gestaltet. Das Buch erzählt in Vor-, Rück- und Sonstwohinsprüngen (gemeint sind Einschübe, die sich später als Bildbetrachtungen zu erkennen geben). Das ist anspruchsvolle und herausfordernde Prosa, die höchste ästhetische Erzählgenüsse verspricht – und erfüllt. Aber die chronologisch gebrochene Erzählweise ist nicht die Folge eines Aufspringens auf den Zug moderner Erzählformen, sondern hat ihre Berechtigung darin, die Suche der Protagonisten, die Verwirrung und die Entwicklung plastisch darstellen zu können.
Als Leser ist man Spurensucher und Konstrukteur von einem ‚neuen’ Weltbild – genau wie Luzie. Am Anfang passt nichts zusammen und man steht etwas ratlos vor einzelnen Informationenzusammenhängen, die sich nicht recht zusammenfügen lassen. Lässt man sich aber auf einen ästhetischen Lesemodus ein und bezieht die Art der Darstellung als sekundäres Zeichensystem in das semantische Verstehen mit ein, dann bildet sich langsam ein kunstvoller Torbogen heraus, der den Übergang von Luzie und Puma in die Erwachsenenwelt darstellt.
Puma ist der zweite Protagonist in diesem in wechselnden Perspektiven erzählten Roman. Puma, der Luzie gerade erst kennengelernt hat, macht sich voller Sorge auf die Suche nach der verschwundenen Luzie. Dass er sie schlussendlich findet, erfährt man als Leser gleich zu Beginn. Denn Puma liest – mit Luzies Kopf in seinem Schoß – ihre Aufzeichnungen über ihre Vergangenheit bzw. darüber, was sie herausgefunden hat.
Leider ist der Puma-Strang weniger überzeugend als der Luzie-Strang. Seine Funktion für die inhaltliche Darstellung wird nicht vollkommen deutlich, weshalb er sich weniger organisch in ein Ganzes einfügt. Aber darüber kann man gerne hinwegsehen, denn diese Einschränkung tut der Gesamtwirkung des Romans keinen Abbruch.

Vielmehr muss man konstatieren, dass es zwar zahlreiche Adoleszenzromane auf dem KJL-Markt gibt, dass aber „Quersumme von Liebe“ wie ein Monolit aus der Masse hervorstechen wird und auch für Erwachsene eine lesenswerte Lektüre verspricht. Der noch jungen Magellan Verlag hat mit Katrin Zipse eine begabte Autorin verpflichtet.
(Jochen Heins, AJuM Hamburg)

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Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 01.07.2016

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