Der Überzählige

Autor*in
Nöstlinger, Christine
ISBN
978-3-7074-5232-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Sophie, Schmid
Seitenanzahl
32
Verlag
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Wien
Jahr
2019
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
19,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Der Überzählige ist ein BRAUNES BUCH.
Im Bahnhof steht ein Zug, außen sehr dunkelbraun, innen hell, so wie der Tag. Die Kinder, hautfarben-beige gemalt, tragen Transport-Karten um ihren Hals. Davor stehen Frauen mit jüngeren Geschwistern, die ihre älteren verabschieden in die Kinder-Land-Verschickung. Am Ende der Reise gibt es ein überzähliges Kind, das auf böse Weise von der Kindergruppe ausgestoßen und gemobbt wird und dazu ein Mädchen, das sich schuldig fühlt für den gequälten Jungen.

Beurteilungstext

Auf dem Buchdeckel vorn steht ein Junge mit verschlossenem Gesicht, sein linker Fuß auf den rechten hochgestiegen. Das Mädchengesicht auf dem Buchdeckel hinten, etwas heller illustriert als das des Jungen, auch verschlossen, die Füße nach innen gestellt. Zwischen den Buchdeckeln die Geschichte einer Kinderlandverschickung von Christine Nöstlinger. Sie schreibt von einer belasteten Zeit ihrer Kindheit, für sie belastend und für den Jungen, um den es geht, der auf dieser Reise aufs Land zum Überzähligen wurde.
Die Kinder im Zug bilden eine Gruppe ohne eigene Namen, der ersetzt wird durch eine rosa Transport-Karte, die jedes Kind am Hals trägt, eine Farbe, die hervorsticht, weil sie aus dem beige-braunen Farbenspektrum der Illustrationen herausfällt. Die hervorstechende und gleichmachende Frisur der Mädchen besteht aus geflochtenem Zopf.
Die Gruppe vor dem Zug, die Frauen, wohl Mütter, die ihre Kinder verabschieden, bilden die zweite Gruppe, auch sie wirken nicht wie Individuen. Sie tragen ihr Haar auf die eine oder auf eine zweite Weise, viel mehr Auswahl besteht nicht. In gelblich-beiger Gruppenfarbe stehen sie und winken den davonfahrenden Kindern, heben ihre Arme, noch immer einheitlich eingeübt wie zum Hitlergruß, der Krieg ist seit drei Monaten zu Ende. Ihre hochgestreckten Arme wirken unpersönlich und erreichen die Kinder nicht; denn sie stehen bedrückend unemotional am Zug.

In den Gesichtern der Kinder im Zug bewegt sich nichts, ihre Augen lugen mal nach links, mal nach rechts zu den Mitfahrenden hin, ihre Münder bleiben verschlossen, sie lächeln nicht, weinen nicht, sehen gefasst und ernst auf das, was kommen wird.
Eine Mutter neigt sich runter zu ihrer Tochter, die unberührt bleibt, die keine Mine verzieht. Mit geschlossenen Augen und eingeknickten Beinen die Mutter, abschiedsbereit stehen sie auf dem Bahnhof.
Dieses Mädchen, damals achtjährig und eines der Jüngsten ist es, das in Ichform seine Geschichte erzählt von der Kinderlandverschickung, einer Reise, die durch Halskärtchen und braunes Umfeld eher zu einem Transport wird, statt zu Ferien auf dem Bauernhof.
Als beim Hinauslehnen aus dem Fenster die Transportkarte des Mädchens davonfliegt, beginnt im Inneren des Kindes ein Martyrium: Es kann niemandem zeigen, wohin es verschickt werden soll, es kann selber nicht lesen, wo es aussteigen muss. Die freundlichen Frauen, beflissen und sozial engagiert, in gebückter und stets angespannt-bemühter Haltung den Kindern gegenüber, rufen die Stationen aus, damit alle wissen, wer wo auszusteigen hat. Das Kind wartet ab bis zum Ende, dann verlässt es mit den „Restkindern“ zusammen den Zug, in einem Ort, der für das Kind nicht vorgesehen war. Jetzt macht es sich große Sorgen darüber, was mit ihm passieren wird.

Der Bürgermeister zählt die Kinder ab und das Mädchen kriegt Platz zehn, damit ist es angenommen, darf sich auf die Bauernseite stellen, da ist es in Sicherheit.
Am Ende und als letzter steht da nur noch ein weinender Junge herum, ein rothaariger mit Sommersprossen während das Mädchen seinen Platz eingenommen hat.
S. 29: „Er (der Bürgermeister) kratzte sich am Kopf und seufzte und sagte: „Verdammthabtacht! Die haum uns a Kind zu vü gschickt!“
So wurde der Junge vier Wochen lang zum „Überzähligen“, der gehänselt wird und ausgestoßen blieb, mit dem weder die Dorfkinder, noch die Wiener Kinder spielen wollten.
Auf dem letzten Bild ist zu sehen, wie die Kinder hinter dem Überzähligen herlaufen, ihn mit Brennnesseln auspeitschen wollen. Ihre Gesichter, auf ihr Opfer gerichtet, sind anders als zu Beginn der Reise, nämlich voller Emotionen, böse, garstig. Angsterfüllt sieht sich der Verfolgte nach der Meute um.

Alles ist düster in dieser Geschichte. Die Illustratorin Sophie Schmid macht wenige Ausnahmen von ihrer Farbpalette Beige-Braun. Neben das Abschiedsbild malt sie weiße Blumentupfer wie zum Trost in die Landschaft und roten Klee.
Sie heitert nicht auf, beschönigt nichts, so war die Zeit. Wenig hoffnungsvoll blicken die Lesenden auf die letzte Seite des Buches, auf der die Nachkriegskinder mit boshaft verzerrten Gesichtern hinter einem „Buben“ her laufen, ihn gnadenlos ausgrenzen und zu quälen bereit sind. Welche großartige Leistung der Illustratorin, die Nachwirkungen des Krieges auf die neue Generation atmosphärisch so dicht darzustellen.
Das Kind hatte bei all den Quälereien, die dem Überzähligen angetan worden waren, zugesehen. „Aber geholfen habe ich ihm nie“, eine ehrliche Beichte am Ende des Buches, die Christine Nöstlinger uns mutig hinterlässt.

Ein diskussionswürdiges Eingeständnis für alle, die wir heute leben.
Ein wichtiges Werk mit Impulsen zu den Themen, die wieder sehr aktuell sind: Mitläufer*innen, Meinungsfreiheit, Menschlichkeit, Populismus und Zivilcourage. Ein Buch für alle Altersstufen, besonders auch für Erwachsene bis ins hohe Alter hinein.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von G-KH; Landesstelle: Schleswig-Holstein.
Veröffentlicht am 03.10.2020

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