Beerensommer

Autor*in
Barth-Grözinger, Inge
ISBN
978-3-522-17787-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
586
Verlag
Thienemann
Gattung
Ort
Stuttgart
Jahr
2006
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
19,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Mutter der 19-Jährigen Berlinerin Anna ist gestorben. Das bietet ihr Anlass, in die Heimat der Mutter zu fahren, um zu ihrer Familiengeschichte zu finden. Dort wird sie geradezu überwältigt von eine Fülle von Eindrücken. Um die Figur ihres Urgroßvaters, den sie als Kind noch erlebte, entfalten sich 100 Jahre deutscher Geschichte mit ihrer Verwicklung und den beiden großen Kriegen, von Liebe und einer legendär gewordenen Männerfreundschaft, die in abgrundtiefen Hass tauchte.

Beurteilungstext


Ausgangspunkt sind zwei Tode: 1912 begeht der bankrotte Vater Selbstmord und stürzt seine gut bürgerlich lebende Familie in die bitterste Armut, sie muss ins Armenhaus umziehen. 2000 stirbt dessen Enkelin, die jetzt in das Dorf ihrer Mutter fährt. Diese beiden Handlungsstränge sind ineinander verwoben und so rätselhaft die Beziehungen der einzelnen Personen am Anfang sind, so enträtseln sie sich bis zum Ende, nicht ohne zu überraschenden Auflösungen zu kommen.
Zum Einen geht es um die sozialen Verhältnisse Anfang des 20. Jahrhunderts: Die jungen Leute von heute kennen Hunger nur noch aus dem Fernsehen, d.h. sie können sich gar keinen Begriff mehr davon machen. Die Autorin zeigt nicht den leeren Magen, sondern all die Begleiterscheinungen, Überlebensstrategien und Nischen, die damals nötig waren, in einer Zeit ohne soziale Absicherung oder Hartz II-IV. Ein Junge, der den abrupten sozialen Abstieg aus der Bürgerwelt ins Nichts mit all seinen Diskriminierungen und Demütigungen erlebt, kann nur zugrunde gehen oder den unbändigen Ehrgeiz entwickeln, wieder nach oben zu gelangen. Der Friedrich dieser Geschichte schafft es, aber nicht ohne seinen Freund Johannes, der - selbst ganz unten - ihn vom ersten Augenblick an auffängt und stützt. Dieser Johannes ist ein ungewöhnlicher Junge: er zeichnet so talentiert, dass er von seinem Lehrer, einem absolut unfähigen Gewaltpädagogen, gefördert wird.
Die Karriere des einen lässt ihn blind werden gegen die Rechte anderer und gegenüber menschlicher Rücksicht, so kommt es wegen einer von beiden geliebten Frau zur Feindschaft zwischen den beiden Männern.
Der Erste Weltkrieg greift brutal in die Handlung ein. Johannes zieht begeistert in den Krieg und kehrt als Kommunist, verwundet und gereift zurück. Der Zweite hinterlässt im gesamten Dorf unübersehbare Spuren, die Vernichtung Pforzheims im Februar 1945 wird in einem beklemmenden Kapitel beschrieben, in dem die Protagonisten den Feuerschein am Horizont sehen.

Was mich besonders an diesem Buch beeindruckt, ist die Personalisierung der historischen Fakten. Es kommt alles zur Sprache (von der1918er Revolution bis zur Euthanasie, von der anfänglichen Begeisterung für Hitler, von der Verstrickung des Kapitals in das Dritte Reich bis zur Flucht und zum Tod der verfolgten Juden und den Vergewaltigungen am Ende des Krieges, etc.pp.), ohne dass man einen Zeigefinger auch nur sähe. Durch die Bindung an die einzelnen Personen werden die Entwicklungen logisch, kann man - vielleicht mit Kopfschütteln - nachvollziehen, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt zu dieser Entscheidung kam. Und die Verbrechen des Dritten Reichs werden in ihrer Absurdität noch deutlicher als durch reine Faktenvermittlung.
Ich hätte mir zwar einen größeren Umfang der Texte über die Zeit von 1933-1945 gewünscht, aber das hat die Autorin in ihrem Buch “etwas bleibt” schon sehr eindrucksvoll und genau beschrieben. Außerdem sind fast 600 Seiten schon reichlich viel. Und anderes möchte ich nicht missen.

Für junge Leser von heute bietet die junge Anna die Person, mit der sie sich identifizieren können, an ihrer Hand bietet es sich an, in die anfangs rätselhafte Vergangenheit ihrer Familie einzutauchen. Vieles blieb zwischen Anna und ihrer Mutter unausgesprochen, vielen Fragen wich die Mutter aus , viele Fragen stellten sich der Tochter nicht. Erst ihre Gesprächspartner im heutigen Schwarzwalddorf sind bereit, alle Fragen zu beantworten. Das Tagebuch des Urgroßvaters liefert die Grundlage, das die Autorin aber auktorial beschreibt, so dass kein Bruch in Sprache und Rollenbeschreibung entsteht.

So liegt hier ein faktenreiches, lebendiges Geschichtsbuch vor, das unaufdringlich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts buchstäblich nahe bringt.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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