Auf Wiedersehen im Himmel

Autor*in
Krausnick, Michail
ISBN
978-3-401-02721-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
175
Verlag
Arena
Gattung
Ort
Würzburg
Jahr
2005
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
6,50 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

"Wir Überlebenden sind die Ausnahme", erklärt Franz Reinhard, genannt "Der Einarmige", seiner Tochter Angela nach dem Zweiten Weltkrieg. Alle weiteren Mitglieder der deutschen Sinti-Familie sind in Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Krausnick erzählt die Geschichte der Angela Reinhard.

Beurteilungstext

"Wir Überlebenden sind die Ausnahme", erklärt Franz Reinhard, genannt "Der Einarmige", seiner Tochter Angela nach dem Zweiten Weltkrieg. Alle weiteren Mitglieder der deutschen Sinti-Familie sind in Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Im Oktober 1939 waren Angela, ihr Vater und dessen zweite Frau in die Wälder Schwabens geflüchtet, um der Registrierung der NS-Behörden zu entgehen. Es gab für die Sinti keinen Zweifel an den Zielen der nationalsozialistischen Rassenpolitik, ebenso wie es später für alle Beteiligten klar war, dass die Deportation nach Auschwitz die Vernichtung bedeutete. Die fünfjährige Angela erlebt diese Zeit des Versteckens als ein großes Abenteuer, allein das ist ihr Leben. So erscheint ihr die Stadt Friedrichshafen, in die sie zu ihrer leiblichen - nach NS-Kriterien arischen - Mutter gebracht wird, nachdem die Sinti-Gruppe in den Wäldern festgenommen wurde, als völlig fremd und falsch. Das Zusammenleben mit der Unbekannten, die ihr keine Muttergefühle vermitteln kann, gelingt nicht, Angela wird vom Jugendamt in verschiedene Kinderheime eingewiesen. Hier entwickelt sie sich gut, lernt gern und genießt das Zusammensein mit den anderen Kindern, die ebenfalls als "Gemeinschaftsfremde" gelten. Als "Zigeunermischling (+)", wie das Mädchen - angeblich wissenschaftlich - eingeordnet wird, hätte Angela zu den 40 Kindern gehören müssen, die am 9. Mai 1944 aus der St. Josefspflege in Mulfingen nach Auschwitz deportiert worden sind. Ein verwaltungstechnischer Mangel in der Listenführung lässt ihr Fehlen nicht auffällig werden: "Du gehörst nicht dazu!" Damit und mit einer Ohrfeige schickt Schwester Agneta die Schülerin in ihr Zimmer. Angela ist verzweifelt, sie wird ferngehalten von einem "Ausflug", so erklären es die Betreuerinnen. Erst die Begegnung mit Johanna, einer älteren Mitschülerin, die genau weiß, welches Schicksal die Kinder erwartet und sich vergeblich weigert mitzukommen, öffnet ihr die Augen. Angela überlebt den Krieg wie nur vier der deportierten Kinder dadurch, dass sie ausgeschlossen wurde. Eine solche Paradoxie rettet auch ihre Familie: Nach mehrmaligen Fluchten können sich Franz und Appolonia Krämer einem Kommando von russischen Zwangsarbeitern anschließen. Diese Menschen verraten sie nicht, sondern schützen die beiden vor der Enttarnung. Sie überleben als angeblich Angehörige einer Gruppe, die zwar ebenfalls als "Untermenschen" gilt und so von der NS-Politik behandelt wird, aber nicht der planmäßigen Vernichtung unterliegt. Sein Leben lang wird das "Zigeunerkind" Angela Reinhard wissen, was es heißt, eine Ausnahme zu sein.
Auch dieses Buch ist eine Ausnahme. Michail Krausnick schildert auf der Basis fundierter Recherchen die Lebens- und Leidensgeschichte des Mädchens, ohne in falsches Mitleid oder vorgegebene Betroffenheit zu verfallen. Die Darstellung des Erzählten beruht in Stil und Tonfall auf den Erinnerungen der Angela Reinhard, so kann auch in kurzen Überleitungssätzen die Zeitzeugin selbst zu Wort kommen. Gleichzeitig gelingt in den übrigen, deutlich längeren Erzählerpassagen die Einflechtung des historischen Hintergrundes, der das Erlebte verständlich macht. Die im Anhang dokumentierten Materialien (Briefe und Fotos) erlauben eine weitergehende Bearbeitung, Einordnung und Überprüfung des Erzählten. Obwohl das Buch deutlich Stellung bezieht, bleibt der Leserin und dem Leser genug Raum für eigene Fragen und Bewertungen. Vieles ist noch zu klären und zu diskutieren, z.B. die Rolle der "Rassenkunde" und deren scheinwissenschaftlichen Theorien oder die Frage, wie das Verhalten der katholischen Kirche zu bewerten ist. Welche Folgen hat das Erlebte für die Überlebenden, wie können sie damit zurechtkommen? Gegenwartsbezüge liegen auf der Hand, Ausgrenzung und Diskriminierung haben heute vielleicht andere Erscheinungsformen, sind aber aus der Gesellschaft nicht verschwunden. Was kann der Einzelne tun?
Besonders ist das Buch auch durch die Konzentration auf eine Opfergruppe, die meist am Rande erwähnt wird; übermächtig erscheint die Erinnerung an die Shoah durch die viel höhere Zahl der ermordeten Menschen jüdischen Glaubens. Aber es geht nicht um Zahlen. Jede Geschichte eines Opfers der menschenverachtenden NS-Ideologie ist es wert aufgeschrieben zu werden und kann Gegenstand für eine Beschäftigung als Form der Erinnerung sein. "Auf Wiedersehen im Himmel" ist ein sehr geeignetes Buch für den Politik-, Geschichts-, Religions- und Deutschunterricht im Sek. I, kann aber ab etwa zwölf Jahren von Interessierten eigenständig gelesen werden. Für den Unterricht hat der Verlag Materialien erarbeit, der Südwestfunk hat zusammen mit dem Autor eine Fernsehdokumentation produziert.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Imh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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