Anders

Autor*in
Steinhöfel, Andreas
ISBN
978-3-551-56006-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Schössow, Peter
Seitenanzahl
236
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
16,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Felix ist an seinem elften Geburtstag durch einen Unfall ins Koma gefallen. Als er daraus erwacht, hat er sein Gedächtnis verloren. Er ist ein anderer, “Anders”, geworden. Sein Inneres wird bedrängt von disharmonischer Musik und Wortkaskaden, die ihn nie zur Ruhe kommen lassen. Um innere Ruhe zu finden, begibt er sich erneut in Lebensgefahr, findet sein Gedächtnis wieder und erinnert sich an ein düsteres Geheimnis, das er aufklären will.

Beurteilungstext

Andersartigkeit ist das Thema der meisten Erzählungen von Steinhöfel. In seinem neuen Roman ist diese Andersartigkeit durch einen tragischen Unfall hervorgerufen. Felix hat sein Gedächtnis verloren. Als er nach exakt so vielen Tagen aus dem Koma erwacht, wie seine Mutter mit ihm schwanger war, ist er ein anderer Mensch. Er entwickelt intellektuelle Fähigkeiten, die man so von ihm nicht kannte. Innerlich aber findet er keine Ruhe. Der Kontakt zu seinen Mitschülern wird problematisch, weil er Auren wahrnimmt, mit Hilfe von Farben und Tönen Seelenzustände erkennen kann. Die Kinder bekommen Angst vor ihm, den Erwachsenen wird er unheimlich. Seine Eltern sind ihm fremd, er ist ihnen fremd. Sein Vater bemüht sich, eine Beziehung zu diesem “Anders”, wie er sich nun nennt, zu bekommen, seine Mutter kann die Veränderung nicht akzeptieren. Alle hoffen, dass Felix seine Erinnerung wiederfindet - fast alle.
Steinhöfel gibt dieser Geschichte einen spannenden Rahmen. Dem Unfall geht ein geheimnisvolles Geschehen voraus, das dem Leser nur angedeutet wird.
Felix’ Eltern und seine Lehrerin haben eine diffuse Ahnung, die sich im Laufe des Geschehens verdichtet. Auch Felix-Anders ist auf der Suche nach etwas, das vor seinem Unfall war und schlimm gewesen sein muss. Auf dieser Suche begegnet er wieder seinem früheren Nachhilfelehrer, der außerhalb des Ortes am Waldrand lebt. Die Beiden werden Freunde. “Du warst ein Langweiler. Du kannst von Glück reden, dass du den Unfall hattest.” “Das hat mir noch keiner gesagt.” Nur vage angedeutet wird, dass die beiden Freunde Nisse und Ben, mit denen Felix vor dem Unfall viel Zeit verbrachte, eine zentrale Rolle in dem geheimnisvollen Geschehen von damals spielen. Aus Felix, dem Mitläufer, wird Anders, der Bestimmer, der lapidar feststellt, dass Nisse im Innern schwarz ist. Die beiden Jungen sind dabei, wenn Anders waghalsige Dinge mit ungeahntem Geschick vollbringt. Für ihn geht es aber nicht um Mutproben, sondern darum, herauszufinden, wie er sein inneres Chaos beruhigen kann.
Während sein Vater zu Hause zusammen mit der Lehrerin versucht, das Passwort von Felix Computer zu knacken, um dem Geheimnis vor dem Unfall auf die Spur zu kommen, rast Anders mit dem Fahrrad zur Lahn - Steinhöfels Kindheitsfluss - , um in das sagenumwobene Wasserloch zu tauchen. Selbst Todesgefahr schreckt nicht seine Sehnsucht, innere Ruhe zu finden. Sein Kumpel Ben rettet ihn und wird zum Freund. Nach diesem, man könnte sagen, zweiten Nahtoderlebnis, findet Felix seine Erinnerung wieder. Er fährt zu dem alten Mann am Waldrand und gesteht ihm, was es mit dem Geheimnis auf sich hat. Die Erzählung findet ein dramatisches, für den Leser aber nachvollziehbares Ende.
Die Geschehnisse spielen sich in knapp drei Monaten ab, die einzelnen Kapitel des Buches sind wie Tagebucheintragungen mit Daten versehen, mit Überschrift und einem kleinen Kopfbild von Peter Schüssow.
Die Struktur des Romans ist vielschichtig. Kein Kapitel beschränkt sich auf eine lineare Erzählform. Die meisten sind multiperspektivisch angelegt. Es gibt Selbstgespräche, Gedanken der Protagonist, die kursiv gedruckt sind, es gibt Rückblenden und die Schilderung einer Sage, die sich mysteriös durch die Erzählung zieht und sich zum Schluss in unheimlcher Weise mit Felix’ Gratwanderung zwischen Leben und Tod verbindet. Daraus baut sich die Handlung auf.
Es liegt auf der Hand, dass Steinhöfels Jugendroman eine anspruchsvolle Lektüre ist. Hinter dem bloßen Geschehen finden sich viele Fragen. Z.B. nach der Identität des Menschen: Was weiß ich von mir? Gibt es Möglichkeiten in mir, die mir nicht zugänglich sind? Kann ich mich verändern? Oder nach sinnvollen Formen von Fürsorge, Freundschaft, Liebe. Steinhöfel bietet dem Leser eindeutig, aber nicht undifferenziert, an, welche Personen seinen Wertvorstellungen entsprechen.
Das Buch steckt voller Lebensweisheiten. Ein Beispiel: (Die Kinder)” Sie sollen immer das werden, was wir in ihnen sehen. Und dann werden sie doch nur das, was wir aus ihnen machen”. Ein anderes: “Aber es tut gut, mal wieder mit einem Kind zu tun zu haben. Ich hatte ganz vergessen, wie hell ihr seid. Das Licht im Dunkel der Welt”.
Es mangelt aber auch nicht an plakativen Aussagen, hinter denen sich jener gesellschaftskritische “Grimm” verbirgt, auf den Steinhöfel vermutlich nicht verzichten möchte. “Gutbürgerliches Pack. Name längst vergessen. Irgendwas, Her Arsch und Frau Geige.”
Auch in seinem Sprachstil möchte Steinhöfel sich nicht auf eine elaborierte, hochästhetische Sprache festlegen lassen. Die derzeit gängige Jugendsprache ist ebenso vertreten wie derbe Ausdrücke aus der Fäkalsprache oder Formulierungen wie “jämmerlich an Krebs verreckt”. Der Sprachstil des Romans ist ebenso vielfältig wie seine Struktur. Da gibt es wunderbare Passagen in Steinhöfels Naturschilderungen, die den Leser in Farben, Gerüche, Stimmungen förmlich hineinziehen. “Entlang des Flusses stieg er (der Nebel) aus den Gärten der kleinen Wochenendgrundstücke empor, ein feiner Dunst, der mit suchenden Fingern durchs Geäst ufernaher Bäume und Gehölze klammte und kletterte, drang und drückte, bis er zuletzt über dem träge dahin strömenden Wasser lag wie eine gigantische Decke aus verwobener grauweißer Nässe.” Oder Beschreibungen von Seelenzuständen: ...”und nur hier schweigt sein Körper, in dem jede Farbe, sobald sie seine Augen trifft, einen Geruch erzeugt, jedes Lichtpartikel einen Geschmack, und der von innen verbrennt, weil er Luft als Feuer einatmet, und der sofort wieder abkühlt, weil er sie als Schnee wieder entlässt”.
Wie gesagt, das Buch ist keine leichte Lektüre. Steinhöfel lässt den Leser passagenweise alleine, wenn er Namen weglässt: ”Ein Junge macht sich Gedanken über seinen Freund” u.a. Hier findet eine Entpersonalisierung statt, die der Erzählung einen parabelhaften Charakter verleiht. Äußerlich mag es auch um das Erzeugen von Spannung gehen. Solche Kunstgriffe tragen dazu bei, dass der Protagonist Felix-Anders im Verlauf der Erzählung merkwürdig “entrückt” bleibt. Näher kommt er dem Leser am ehesten in seiner Freundschaft zu dem alten Mann.
Selbst im Epilog, da wir die beiden Freunde Felix und Ben vereint und soweit mit sich im Reinen, wie man es zum Beginn der Pubertät sein kann, auf der Schicksalsbuche sitzen sehen, betrachten wir die beiden Unbenannten aus der Ferne.
Ich schließe das Buch und finde es trotz des versöhnlichen Endes traurig, schwerblütig, stellenweise unheimlich. Mehr Leichtigkeit, Ironie und Humor hätten der Thematik etwas von der Schwere genommen.
Das Buch ist vom Verlag schon für Zwölfjährige empfohlen. Das scheint mir eine Überforderung, zumal Steinhöfel nicht nur den Protagonisten Felix eine Menge tiefsinniger Gedanken entwickeln lässt. Für ältere Jugendliche ist dieses Thema, das so ganz ohne Beziehungen zu gleichaltrigen Mädchen auskommt, nur bedingt interessant. Aber Erwachsenen, die gerne zu einem vielschichtigen Jugendbuch greifen, sei es empfohlen.
Das Buch selbst, aus einer neuen Reihe im Carlsen Verlag, dem Königskinder Verlag, ist eine bibliophile Besonderheit in Weiß, Gold und Grauschwarz. Die kleinen Kapitelbilder von Schössow bilden die Grundstimmung des Buches kongenial ab.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Ili.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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