Als die Welt zerbrach

Autor*in
Boyne, John
ISBN
978-3-492-07197-0
Übersetzer*in
von Schickenberg, Michael Schweder-Schreiner, Nicolai von
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
416
Verlag
Piper
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München/Zürich
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
24,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Fortsetzung von „Der Junge im gestreiften Pyjama“ stellt die richtigen Fragen und gibt die falschen Antworten: Boyne greift die Geschichte um Gretel, der Tochter des Auschwitz-Leiters, auf und fragt nach der Schuld der Täterkinder. Doch die Darstellung ist wenig plausibel und lässt auch das Vorgängerbuch in einem schlechten Licht erscheinen.

Beurteilungstext

John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ hat in der Rezeption zu gespaltenen Reaktionen geführt. Die einen warnten davor, dass hier Geschichte verfälscht worden sei, weil historisch nicht nachvollziehbar ist, was dargestellt wird, die anderen sehen das Buch als eine Parabel, die viele Leerstellen lässt und gar nicht realistisch sein will: Der neunjährige Bruno, Sohn des Auschwitz-Leiters, freundet sich mit Schmuel, einem Jungen aus dem KZ an, tauscht mit diesem die Kleider und wird getötet. Am Rand der Geschichte taucht Gretel, seine zwölfjährige Schwester auf. Um diese geht es nun in der Fortsetzung. In parallel erzählten Kapiteln wird ihr Leben und ihre Flucht vor der Verantwortung dargestellt. Nach der Hinrichtung des Vaters werden sie und ihre Mutter in Frankreich von ehemaligen Résistance-Kämpfern enttarnt, als sie sich mit falscher Identität dort eine neue Existenz aufbauen möchten. Gretel flieht als junges Mädchen nach Australien, um Europa und den Erinnerungen an das Handeln ihres Vaters zu entkommen, trifft dort aber ausgerechnet auf den ehemaligen Oberleutnant Kurt Kotler, für den sie als Zwölfjährige geschwärmt hat und der sich nun unter falschem Namen ein neues Leben aufbauen möchte. Sie will ihn auffliegen lassen, entführt dafür seinen Sohn, lässt sich aber dann davon abbringen, da auch er ihr androht, sie zu enttarnen. In London schließlich verliebt sie sich in einen Überlebenden von Treblinka, der sie aber verlässt, als er von ihrer Vergangenheit erfährt. Stattdessen heiratet sie dessen besten Freund, einen bekannten Historiker und Spezialisten zum Zweiten Weltkrieg, der wohl keine Probleme mit ihrer Schuld hat. Parallel zu diesen Rückblicken wird aus dem Leben der über 90-Jährigen erzählt: Mittlerweile lebt sie in einem edlen Appartement am Londoner Hyde-Park. Als sie beobachtet, dass ihr Nachbar seinen neunjährigen Sohn (der sie natürlich an ihren verlorenen Bruder Bruno erinnert) und seine Frau misshandelt, fühlt sie sich herausgefordert: Wird sie sich jetzt der Verantwortung stellen und eingreifen, anders als damals als zwölfjähriges Mädchen, wo sie in Auschwitz mitschuldig wurde? Sie ermordet schließlich kaltblütig den Nachbarn und sieht ihre Gefängnisstrafe als verspätete Sühne für ihre Schuld.
Problematisch ist das Dargestellte aus verschiedenen Gründen: Zum einen wird aus der Perspektive von Gretel und völlig ohne Distanz erzählt. Damit geht verloren, was das Vorgängerbuch retten konnte: „Als die Welt zerbrach“ ist gnadenlos realistisch und nicht mehr als Parabel zu lesen. Gretels Perspektive und die wenig glaubwürdigen Wendungen werden denn auch bruchlos übernommen, so dass der Vorwurf von Holocaust-Kitsch hier berechtigt ist. Besonders problematisch sind die Stellen, an denen Auschwitz verharmlost wird und die LeserInnen vor lauter Mitleid mit Gretels Situation ihre Situation verkennen, etwa als man mit ihr mitfühlt, als ihr jüdischer Freund sie verlässt. In der deutschen Ausgabe findet sich nicht das Nachwort, das Boyne für die englische Ausgabe verfasst hat: Dort zeigt er deutlicher auf, welche Last auf den Täterkindern liegt, die wissen, dass Menschen, die sie geliebt haben, schuldig geworden sind. Boyne hat sich in seinem Werk immer wieder in die Perspektive der Täter hineinversetzt, auch in „Der Junge auf dem Berg“, wo er die Faszination eines französischen Jungen für Hitler und die Atmosphäre auf dem Obersalzberg beschreibt, greift er dieses wichtige Thema auf. Auch dort wird nicht mit historisch plausiblen Fakten argumentiert, aber der Parabelcharakter könnte ansatzweise noch gelten. Gerade durch den slapstickhaften Schluss und die vielen unplausiblen Zufälle, die Gretels Leben durchziehen, kommen den LeserInnen Zweifel an dem Dargestellten, das nun doch realistisch daherkommt. Problematisch ist schließlich auch, dass Gretels anhaltende Faszination für den Nationalsozialismus, die durch ihre Versuche, ihn einfach auszublenden verstärkt werden, in der Erzählung nicht reflektiert werden. Diese zeigen sich z.B., als sie sich nach dem Gespräch mit Kotler in Australien seiner erotischen Anziehung nicht entziehen kann. Fast schon geschmacklos sind die komischen oder kolportagehaften Elemente des Romans: Gretel wirkt in ihrem schrulligen Verhalten gegenüber den Nachbarn, gegenüber ihrem Sohn und ihrer Tochter fast wie ein Abklatsch von Miss Marple. John Boyne kann schreiben und diese unterhaltsamen Elemente sind sicher nicht als Anbiederung an das jugendliche Lesepublikum zu sehen.
Wer „Der Junge im gestreiften Pyjama“ in der Oberstufe lesen lässt, kann das Nachfolgebuch sicher gewinnbringend als Konstrast einsetzen und damit eine fruchtbare Diskussion um die Darstellbarkeit des Holocaust im Unterricht anstoßen. Für die Mittelstufe wäre aber dringend von „Als die Welt zerbrach“ abzuraten.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPAK; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 15.05.2023

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