1984 - Hörspiel - 4 CD

Autor*in
Orwell, George
ISBN
978-3-8445-3936-3
Übersetzer*in
Walter, Michael
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in / Sprecher*in
Umfang
250  Minuten
Verlag
Der Hörverlag
Gattung
Digitale Medien
Ort
München
Jahr
2021
Alters­empfehlung
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
24,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Orwells Dystopie ist vielfach bearbeitet oder gespielt worden. Klaus Buhlert gelingt es in einer neuerlichen Hörspiel-Bearbeitung, den oft gar nicht vollständig bekannten Text wie auf einer Bühne vorstellbar werden zu lassen. Die Aktualität scheint deutlicher als je zuvor. Die Spannung wird durch hervorragende Sprecher und die Inszenierung gehalten, auch für die, die den ganzen Text kennen. Durch 5-Minuten-Tracks ist auf den 4 CDs Unterbrechung oder Wiedereinstieg schnell möglich.

Beurteilungstext

Buhlert hat den ursprünglichen Text weitgehend unverändert in der Übersetzung von Michael Walter übernommen; die Einspielung aber ist modern inszeniert mit - vor allem - akustischen Hinweisen auf das Erscheinungsjahr des Romans. Das erweist sich als sinnvoll, da das Wissen um die zeitliche Distanz bis zu den heutigen politischen und technischen Gegebenheiten doch erschrecken kann. Beim Hören muss die gar nicht so lange Zeitspanne und die danach schrittweise erfolgte technische Revolution fast automatisch mitgedacht werden. („Der Inhalt zeigt aus der Vergangenheit auf unsere Gegenwart und verweist auf die Zukunft.“, Zitat Buhlert)
Die damalige Fiktion scheint in vielen Bereichen bereits bestätigt. Manches wird denkbar, manches kann nur noch von Insidern durchschaut werden: Die Überwachung durch „Big Brother“ und seinen Parteiapparat, die nachträgliche Überarbeitung der Vergangenheit oder eine Verordnung der zu sprechenden Sprache, einschließlich verbotener Wörter, sind technisch jederzeit machbar.
Buhlert hat Klang- und Musikunterlegung selbst komponiert, bzw. bearbeitet, arrangiert und Akustik-Fragmente ergänzt. Zusammen ergibt sich eine stimmige zusätzliche Dimension der Texterfassung für heutige Hörer. Das Spulgeräusch des Filmapparates ist erkennbar, der ungewohnte Klang eines merkwürdig verstimmten Klaviers, zu dessen Musik sich die Menschen zur Ertüchtigung exakt vorgegeben bewegen sollen.
Julias Auftritt beginnt dagegen mit einem Groove, der die Hörer in die erste Szene hineinzieht. Die Klangunterlegung im Hintergrund scheint unmittelbar in die Gedanken von Winston Smith einzudringen. Der schrille Ton der Trillerpfeife lässt erschrecken und das weiterhin muntere Spiel des Klaviers fordert auf, nicht nur den harten Takt zu bedienen, sondern sich - ohne jegliche Rücksicht auf Alter und körperliche Verfassung - einzufügen. Die Frauenstimme gibt vor, was von Jedem erwartet wird. Jeder wird gesehen und Unregelmäßigkeiten erfasst. Hüsteln und Gesprächsfetzen zeugen davon, niemals wirklich allein zu sein.
Winston Smith hat angefangen, den Parolen der Gedankenpolizei und den kollektiven Gedanken der Teleschirme zu misstrauen. Er beginnt, Tagebuch zu führen. Das ist nicht illegal, würde aber, bei Entdeckung, zur Todesstrafe führen. Smith vermutet, dass die Partei den Menschen Wahrheiten verschweigt. Die Parolen, das Neusprech, das Gedächtnisloch – in das Erinnerungen fallen sollen-, der 2-Minuten-Hass, lassen für ihn zu viele Fragen offen.
Er selbst ist mit nachträglichen „Richtigstellungen“, den sprechgeschriebenen Korrekturen beschäftigt. „Fast täglich wird die Vergangenheit aktualisiert.“ Eine verstimmte Spieluhr, begleitet von Kantinenklängen- und Gesprächen, lässt bei ihm verschwundene Erinnerungen aufblitzen. Doch Lautsprecher-Durchsagen, was zu denken sei, wenn die Partei es so vorgedacht hat, übertönen immer wieder alles.
Niemandem ist zu trauen, um Wahrheiten zu überprüfen. Immerhin gibt es den einen, der öffentlich von Lügen spricht. Doch wer ist der? Wer gehört dazu? Sind es nur Fallen der Spione?
Die Diskussion um die zwölfte Neubearbeitung des Wörterbuchs, das mit immer weniger Wörtern auskommen wird, findet am Mittagstisch statt. Jederzeit hört der "Große Bruder" mit. Dauerkorrekturen lassen keine festen Setzungen zu. Winston arbeitet zwar selbst in der Dokumentation und veröffentlicht u.a. in der Zeitung, doch kann ihm jederzeit Unkenntnis zur Last gelegt werden, wenn er die immer neuen Änderungen nicht kennt. Er muss ständig auf der Hut sein.
Julia nimmt Kontakt zu Winston auf. Sie weiß, genau wie er, dass sie belogen werden. Offiziell spielen sie mit. Sie „heulen mit den Wölfen“, um der Gedankenpolizei zu entgehen. Julia ist furchtloser und aktiver. Sie spielt in Buhlerts Inszenierung eine größere Rolle als Leitfigur, als bei Orwell. (Das ist, lt. Buhlert, auch den Arbeiten an den Kompositionen und den Aufnahmen geschuldet.)
Julia und Winston lassen sich auf körperliche Liebe ein, was streng verboten ist. Können sie dem Liebesministerium auf Dauer entgehen?
Die Partei will die widerliche Sexualität in der Zukunft durch Kunstsamen zur Kinderzeugung ersetzen. Sexualität vergeudet nur wichtige Energie. Die Erziehung der Kinder soll in Aufzuchtanstalten erfolgen. Eltern, also Mutter und Vater, werden dann irgendwann überflüssig sein.
Zu allen Lebensbereichen haben sich Partei und „Großer Bruder“ bereits Zugang verschafft, durch Bildschirme überwacht, kann kein privates Leben mehr stattfinden. Die Partei leugnet die eigene Erfahrung und sogar die äußere Existenz. „Glück existiert nicht“.
Winston hat ein Zimmer bei einem kleinen Händler gemietet. Es hat ein Mahagoni-Bett und es hat - unfassbar - keinen Telebildschirm. Über dem Bett hängt ein großes Gemälde. Sie fühlen sich hier allein. In den Laden geht ohnehin niemand mehr. Sie glauben, einen letzten privaten Raum gefunden zu haben. Es bleibt dennoch riskant, sich hin und wieder hier zu treffen und zu lieben. Sie müssen vorsichtig vorgehen. Es ist eine Gegenwelt, von der Winston überzeugt ist. Sonst: „ .. sind (wir) Tote“.
Julias Gedanken, unterlegt mit Klaviermusik, bereiten auf ihre Treffen vor. Julia kommt sogar an Luxusgüter heran, die sonst nur den Parteibonzen zustehen: echten Kaffee und Tee, Brot, echten Zucker, Kosmetik, Parfum. Sie können kurze Treffen dort genießen und über eine mögliche Zukunft sprechen, in der die "Proles" es vielleicht geschafft haben werden, etwas zu verändern.
Sie sind überzeugt: Das können nur die Proles. Die Zukunft sind die Proles, irgendwann werden sie aufwachen, auch wenn es Jahrtausende dauern wird.
Ratten stören sie auf einmal. Julia will bis zum nächsten Treffen Gips beschaffen, um deren Löcher zuzukleistern. Sie ist die Aktive, sie erklärt ihre Ausweichregeln, um der Gedankenpolizei nicht in Falle zu gehen. Sie fühlt sich sicher, weil sie die Strukturen glaubt, gut durchschaut zu haben und die Erwartungen gezielt bedient. Winstons Reden über Vergangenheit und Wahrheit interessieren sie zunächst nicht. Folter und Isolation drohen zwar unausweichlich bei Entdeckung. Doch sie wollen anders leben, nicht im dauernden Kriegszustand zwischen Ozeanien und Eurasien. Nicht mit ständig zu skandierenden Parolen:
Nieder mit Eurasien
Unwissenheit ist Stärke
Krieg ist Frieden
Freiheit ist Sklaverei.
Man muss sagen dürfen, dass 2 plus 2 nicht fünf, sondern Vier ergeben.
Sie gelangen an Texte von Goldstein. Eine andere Wahrheit existiert. Seine Warnungen und Gegenmeldungen stimmen. Es gibt eine Verbindung zu einer oppositionellen Bruderschaft. Ihr wollen sie sich anschließen. Es wird nichts geben, was ihre Teilnehmer und Aktionen aufdecken könnte. Sie weihen O’Brian ein, von dem sie sicher sind, dass er auf ihrer Seite steht, denn sie wollen operativ tätig werden. Sie versichern ihm, dass sie in der Bruderschaft mitarbeiten werden, gegen den "Großen Bruder". „Unsere Möglichkeit liegt in der Zukunft.“
O’Brian versorgte sie sogar mit Informationen und dem Buch Goldsteins. Winston schreibt das Tagebuch nun auch für O’Brian.
In vielen Szenen erklingt mal nicht verständlich, mal deutlicher gesungen, dann wieder nur als ferne Melodie, eine Überarbeitung des Songs „When the belfast-child sings again“ wie ein Zitat. Im Hörspiel endet es mit der Hoffnung auf den imaginierten „wedding-day?“. Gegen die Harmonie gesungen hinterlässt das Lied Zerrissenheit. (Leider ist der Text oder eine Übersetzung nicht im booklet enthalten.)
Eines Tages beobachten sie vom Fenster des Zimmers aus die Frau, die im Hof Wäsche aufhängt und dabei singt. Irgendwann werden die Proles singen.
Und dann haben sie doch nicht alles durchschaut. Ihr Kampf gegen den Staat war von Anfang zum Scheitern verurteilt. Dem „Großen Bruder“ ist nichts entgangen. Zum Showdown kommt es, als sie das Bild im Zimmer von der Wand entfernen, wohinter sie die Ratten vermuten. Hinter dem Bild ist der Bildschirm versteckt. Man hatte sie die ganze Zeit gehört und von ihnen gewusst.
Die letzten Szenen sind nur noch blanker Horror. Winston wird körperlich und seelisch gefoltert. Gestehen nützt nichts, denn es wird ihm ohnehin als taktisches Eingeständnis nicht geglaubt. Er soll dennoch immer wieder dieselben Fragen beantworten. Von Julia behauptet man, sie habe sofort gestanden, den Großen Bruder verleugnet zu haben und terroristische Pläne gegen die Partei gehabt zu haben.
Winston wehrt sich noch. Sein Intellekt kann den Aussagen nicht zustimmen. Er weiß nicht mehr, ob die Erinnerungen stimmen, ob er seinem Denken und seiner Wahrnehmung noch trauen darf und kann. Er wird immer wieder gequält. Die Stimmen im Hörspiel schlagen brutal zu.
Hier wird reiner Sadismus praktiziert. Man will erst dann töten, wenn auch der Kopf „rein“ sein wird. Die Folterer übertreffen sogar noch die mittelalterliche Folter damit, denen der körperliche Tod genug war. Die seelische Zerstörung kann von ihnen ebenso nicht hingenommen werden. Dieses teuflische Vorgehen lässt ihn irgendwann sogar Julia und die Liebe zu ihr, verraten. Er wünscht nun, dass sie für ihn leiden solle. Winston entdeckt seine neue Liebe zum "Großen Bruder". Die Gehirnwäsche war erfolgreich. Nach dem bloßen Hören des Geschehens ist klar: Diese Folter hätte niemand ausgehalten.
Die Folterszenen zeigen die Ausweglosigkeit und das teuflische System, dem nicht zu entkommen ist. Die Frage, ob denn zwei plus zwei vier sei, werden Hörer in Zukunft nicht mehr so ohne Weiteres als eine einfache Nachfrage wahrnehmen können. So wenig reicht, um das eigene Denken zusammenbrechen zu lassen. Es gibt nirgendwo ein Entrinnen oder eine Hoffnung. Für Keine und Keinen
Der „Große Bruder“ als Bedrohung ist eine Metapher, die sich nicht erledigt hat. Orwell wusste, wogegen er schrieb und konnte sein Buch kurz vor seinem Tod zum Glück fertigstellen.
Buhlert sieht, dass totale Überwachung heute machbar und eine konkrete Bedrohung ist. Daher ist dieses Hörspiel wichtig.
PS: Im booklet finden sich neben Hinweisen zur Aufnahme, zu Sprechern und Musik noch ein Interview zur Sichtweise von Buhlert auf den Text und ein ebenso wichtiges Nachwort von Daniel Kehlmann, der den Bogen noch ausweitet: Er verweist noch einmal genauer u.a. auf den "Großen Bruder" als nicht gefüllter Leerstelle, auf die Funktion der Sprache und die Mechanismen von Unterdrückung, auf essayistische Ausschnitte von Goldsteins Buch im Zweiten Teil aber auch auf das „Motiv der Todesgewissheit“ und den Surrealismus. Was im Surrealismus Verspieltheit ist, Anregung, ist hier blutiger Ernst.

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Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 08.02.2022

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