Zwischenlandung

Autor*in
Elsäßer, Tobias
ISBN
978-3-7373-5113-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
304
Verlag
Gattung
Ort
Frankfurt/Main
Jahr
2015
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,99 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Ein Hoch auf die wahre, kompromisslose Liebe!“ ruft Mathis aus. Sein Bruder Gregor allerdings liegt im Wachkoma und kann sich nur Fragen: „Was nützt die Liebe in Gedanken“, wenn „Liebe [...] der Unterschied zwischen Existenz und Leben“ ist? Diese Sätze – das „Treibgut eines verschütteten Poeten“ – bilden die eine Seite dieses gelungenen Jugendromans. Die andere Seite ist davon gekennzeichnet, dass eine tragisch-romantische Geschichte sich auch durch erzählerische Komik auszeichnen kann.

Beurteilungstext

Gregor, Mathis und Mira waren als Kinder unzertrennlich. Als sich die Freundschaft zwischen Gregor und Mira später zu einer Liebe entwickelt, beide es aber nicht schaffen, sich diese gegenseitig zu gestehen – weil sie jeweils Angst haben, dass der andere das Gefühl nicht erwidern könnte –, gehen sie für Jahre getrennte Wege. Als Gregor aber beim Tauchen nach Golfbällen etwas findet, das Mira unendlich wichtig ist, nimmt er all seinen Mut zusammen, um Mira endlich seine Liebe zu gestehen. Ja, und in diesem Moment passiert das Unfassbare: Gregor wird, als er Mira gegenübersteht, von einem Golfball am Kopf getroffen, sodass er ins Wachkoma fällt. Ein Schicksalsschlag mit weitreichenden Folgen für alle. Die sich an dieses Ereignis anschließende Entwicklung ist aber viel mehr als eine Rekonvaleszenz-Geschichte: Verwoben sind eine Liebes- und Freundschaftsgeschichte und die dringliche Suche nach dem eigenen ICH.

Der Roman „Zwischenlandung“ des freien Journalisten, Autors und Gesangslehrers Tobias Elsäßer ist ein mitreißendes Werk, das sowohl komisch und schräg als auch romantisch und tiefgründig ist. Diese ausgewogene Mischung gelingt nur selten, ohne dass die Geschichte ins Alberne oder in eine Form von Mitleidsprosa abrutscht. Man darf also den Hut vor Elsässer ziehen.
Wunderbar schräg ist beispielsweise die Szene (und der Einfall Elsäßers), in der Gregor im Taucheranzug von einem Golfball getroffen wird. Die verheerenden Folgen dieses Unfalls sind es, denen der Roman auf der Ebene des Erzählten und der erzählerischen Gestaltung alles verdankt. Als Gregor nämlich wieder erwacht, sitzt Mira bei ihm, liest ihm vor und streichelt ihm übers Gesicht.
Im Folgenden wird alternierend aus der Perspektive von Gregor und von Mira erzählt. Insbesondere in den ersten Teilen (der Roman ist in fünf Abschnitte eingeteilt) ist Gregors Erzählen von dem Prozess geprägt, wieder zu Bewusstsein zu kommen: Er weiß nicht, was passiert ist. Erinnern tut er sich nur daran, dass er eine Party besuchen wollte und daher versucht er, seine Situation als Folge eines massiven Drogenabsturzes einzuordnen. Er schnappt Geräusche auf, hört Stimmen und empfindet starke körperliche Schmerzen. Und je mehr Zeit vergeht (die erzählte Zeit zieht sich über Monate hinweg), desto besser gelingt es ihm, die ihn umgebende Wirklichkeit neu zu ordnen. Aber ein Problem bleibt bestehen: Er kann zwar alles sehen und verstehen, aber kommunizieren kann er nicht. Der Leser liest in den Abschnitten Gregors eine krasse Innenperspektive – eine reine Gedankenwelt.
Andererseits sind es teilweise dieselben Situationen und Begebenheiten, die Mira erzählt. Der Leser erhält auch zu ihrer Gedankenwelt exklusiven Zugang und erfährt durch sie ferner einen ‚objektiven’ Bericht über alle Einzelheiten, die in Gregors Wahrnehmung eine mitunter vollkommene Umdeutung erhalten haben.
Auch wenn das Erzählen einer Geschichte aus zwei Perspektiven keine Innovation mehr bedeutet, ermöglicht das unvermittelte Aufeinandertreffen der Perspektiven in diesem Roman die Fallhöhe, die gelungene Komik auszeichnet. Eine Komik, die eine subtile Ernsthaftigkeit ausstrahlt. Dieses Wirkungspotential kann sich allerdings nur dann entfalten, wenn der Leser die Anforderung annimmt, die Informationen zu ordnen, auch trotz sich widersprechender Informationen nicht aufzugeben und konkurrierende Wahrnehmungsweisen zu koordinieren. Spielt man als Leser dieses von Elsäßer inszenierte Spiel mit, dann besitzt man gegenüber den Figuren einen Wissensvorsprung, der ein Verstehen der Missverständnisse der Figuren ermöglicht: Und darin besteht ein echter Genuss. Obwohl das alles schon für eine positive Besprechung ausreicht, liegt die eigentliche Stärke des Romans darin, dass eine zweite symbolische Lesart möglich ist, die etwas viel Elementareres in der Darstellung zu Tage fördert, und dem, der will, existenzielle Tiefe bietet. Das Ergebnis einer solchen Lesart soll im Folgenden skizziert werden.
Gregor befindet sich durch das Wachkoma wie unter einer Glasglocke, die Kommunikation unmöglich macht, ihn von der Außenwelt trennt und gleichzeitig vor dieser schützt. In seinem Leben vor dem Unfall hat Gregor sich auch eine solche Glocke aufgebaut, die seine echten Gefühle verbirgt und ihn die Rolle des lebensfrohen Draufgängers spielen lässt. Die Glocke verhindert aber gleichzeitig, dass seine ‚echte’ Liebe heraus kann und eine Chance erhält. Aber nicht nur Gregor ist unter einer Glocke im übertragenen Sinne gefangen: Auch Mira und sein Bruder Mathis sind vor dem Unfall in sich selber gefangen. Und wenn Gregor – als Teil der Wachkoma-Heilungsstrategie – ein Spiegel vorgehalten wird, damit er sich selbst wieder zu erkennen lernt, dann ist dies auch ein symbolischer Spiegel für alle Figuren und den Leser. Allen wird ein Spiegel vorgehalten, indem sie angeregt werden, über das eigene Leben nachzudenken. Das Ergebnis der Selbstspiegelung besteht bei den Figuren in der Erkenntnis, ihre Glocke zu durchbrechen, neue und andere Wege zu gehen und das bisherige Leben und dessen Ordnung zu zerstören – auch auf das Risiko hin, dass danach alles vorbei ist.
Der Roman eröffnet durch die Inszenierung des Wachkomas Gregor, seine Mitmenschen und auch dem Leser einen dritten Raum, einen anderen Bewusstseinszustand, der innerfiktional und außerfiktional Reflexionen und deren authentische Darstellung möglich macht.
Man kann nur zusammenfassen, dass in dem Roman „Zwischenlandung“ die großen und kleinen Herausforderungen des Erwachsenwerdens auf wirklich gelungene Weise dargestellt sind, und dass die Lektüre auch für all jene ein Erlebnis sein kann, die sich von Literatur abschrecken lassen, die einen allzu hohen Ton anschlägt. Hier hingegen geht´s auf komisch melancholische Weise um den Kampf ums Leben, die Liebe, das Verstehen und das Verstandenwerden.

(AJuM Hamburg, Jochen Heins)

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 24.03.2016

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