Wie ich Hitler Beine machte. Eine Danziger Polin im Widerstand

Autor*in
Schenk, Dieter
ISBN
978-3-570-30255-2
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Bertelsmann
Gattung
Ort
München
Jahr
2003
Lesealter
14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
6,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ewa erlebt ihre Jugend als älteste Tochter einer gutsituierten polnischen Familie unbeschwert - bis zu jenem 1. September 1939, als deutsche Soldaten in ihre Heimatstadt Danzig kommen und eine systematischen Hetzjagd auf die dort lebende polnische Minderheit beginnt. Zuerst sind es nur Jugendstreiche, die Ewa mit ihren Freunden im Widerstand gegen die verhassten Nazis ausheckt, doch nach eigenen schmerzvollen Erfahrungen führt sie ihr Weg schließlich in den Untergrund und zur polnischen Geheimarmee.

Beurteilungstext

Der ehemalige Kriminaldirektor und jetzige Publizist, Sach- und Jugendbuchautor Dieter Schenk vervollständigt mit diesem Buch seine Danzig-Trilogie. Durch seinen Verdienst wurde im Jahr 1998 ein Gerichtsverfahren wiederaufgenommen, das am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs im Postamt von Danzig seinen Anfang nahm. Damals verurteilte ein deutsches Feldkriegsgericht 38 patriotische polnische Postbeamte, die am 1. September 1939 ihr Postamt gegen die Übernahme deutscher Soldaten und Polizisten verteidigten, als angebliche Freischärler zum Tode. Selbst nach damaligem NS-Recht hätte keine Verurteilung erfolgen dürfen, die verantwortlichen Juristen hatten das Recht gebeugt und machten nach Kriegsende Karriere. Mithilfe der Rechercheergebnisse Schenks konnte ihnen Juristenmord nachgewiesen und den Angehörigen der Opfer Entschädigungen zugesprochen werden.
Indem Schenk in seinem neuesten Buch historische Begebenheiten, Zeitzeugenberichte und biographische Hintergründe zu einem fiktiven Einzelschicksal verknüpft, hat er einen Jugendroman geschaffen, der sich besonders durch seine intensive Authentizität auszeichnet. Dieser Eindruck wird durch die Erzählperspektive und die Einbettung der eigentlichen Geschichte Ewas in eine zeitlich versetzte Rahmenerzählung verstärkt. So begegnet Ewa als betagte Frau im heutigen Danzig der jungen Nele und beginnt ihr von ihren Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs zu erzählen. Nele und ihre Freunde sind fasziniert und bitten die Zeitzeugin, ihre Geschichte vor ihrer ganzen Jahrgangsstufe in Bremen vorzutragen. Die Einbindung der Binnenerzählung in diesen "modernen" Rahmen wirkt zwar zu Beginn leicht konstruiert und weist einige erzähllogische Schwächen auf, ist aber dennoch gut gewählt, um die jugendlichen Leser auf einer inhaltlich vertrauten Erzählebene abzuholen, sie die Neugier und das Interesse Neles nachempfinden zu lassen und einen erleichterten Zugang zum Roman zu schaffen.
In sieben unterschiedlich langen Kapiteln bedient sich die Ich-Erzählerin einer sehr nüchternen und deutlichen Sprache, deren Tonfall manchmal dokumentarisch, seltener emotional gefärbt ist. Doch gerade dieser sparsame Umgang mit nachdrücklichen Beschreibungen von Ewas Gedanken, ihren Ängsten oder Hoffnungen unterstützt den ernsthaften Gesamtton und den authentischen Rahmen des Romans. Die eingeschränkte Perspektive der Ich-Erzählerin wird nicht konsequent eingehalten, an manchen Stellen ermöglicht eine auktoriale Erzählinstanz kurze Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer Protagonisten, was vor allem gefährliche Situationen noch bedrückender erscheinen lässt.
Ewas Erzählung beginnt mit ihrer Geburt in Jahre 1924. Parallel zu Ereignissen aus ihrer Kindheit und Jugend schildert sie den ansteigenden Einfluss der Nationalsozialisten in der Freien Stadt Danzig. Da etwa 95 % der Bevölkerung die deutsche Nationalität besitzt und die Polen eine Minderheit darstellen, beeinflussen die Sympathien für Hitler und die NSDAP in Deutschland auch die Stimmung in den Straßen von Danzig. "Heim ins Reich" - Mit diesem Propagandaspruch legitimieren die Nationalsozialisten vor allem in Danzig die Verletzungen des Versailler Vertrages und die zunehmenden Spannungen mit Polen. Ewas Vater, ein patriotischer Intellektueller, wird verhaftet und später, ohne das Wissen seiner Familie, mit anderen Häftlingen zusammen erschossen. Die Freundschaft zu der deutschen Nachbarsfamilie wird auf die Probe gestellt, ebenso wie Ewas Verhältnis zu ihren Freunden. Der chronologische Erzählablauf wird konsequent bis in das Jahr 1945 eingehalten, allerdings durchbricht die Ich-Erzählerin den linearen Handlungsstrang an mehreren Stellen, um durch Prolepsen zukünftige Handlungen vorwegzunehmen bzw. um parallel laufende Ereignisse, von denen sie erst viel später erfahren hat, zu berichten. Zum einen erhöhen diese Andeutungen von bevorstehendem Schrecken die Spannung und betonen Ewas Verzweiflung sowie die Unausweichlichkeit des Krieges. Zum anderen scheint die Ich-Erzählerin an diesen Stellen aus der Perspektive der Jugendlichen, des erlebendes Ichs, herauszutreten und die Rolle der erwachsenen Ewa, der Erzählinstanz der Rahmenerzählung, einzunehmen.
Die Schilderung der Entwicklung des jungen Mädchens regt zu unterschiedlichen Lesearten an: Ewa erlebt trotz der widrigen Umstände des Krieges Freundschaften und die erste Liebe, sie erfährt Sicherheit durch ihre Familie und findet Gleichgesinnte im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Sie zeigt Engagement und kämpft - auch unter Lebensgefahr - für ihre Überzeugung und eigenen Lebensentwürfe. Empathie und Fremdheitserfahrung, Ausgrenzung und Anfeindung, Vertrauen und Freundschaft, Ungerechtigkeit und Überlebenswille - am Einzelbeispiel der Geschichte von Ewa können verschiedene Identitätsbildungsprozesse veranschaulicht werden, deren wirkungsästhetische Qualitäten durch die historische Komponente des Zweiten Weltkriegs noch erweitert werden. Die grausamen Fakten des Krieges und deren Einfluss auf Ewas Entscheidung, Widerstand zu leisten, evozieren Verunsicherung beim Leser, die dazu auffordert, eigene Werte und das eigene Selbstverständnis zu überprüfen.
Schenk betont die Authentizität seines Romans durch ein kurzes Vorwort, indem er die Hintergründe seiner Danzig-Trilogie vorstellt, sowie durch einen kurzen Anhang, in dem er Abkürzungen und schwierige Begriffe erklärt. Da dieser Anhang allerdings nur eine Auswahl an Worterklärungen bietet, der Text darüber hinaus aber eine Reihe weiterer ungewohnter bzw. fremder Ausdrücke aufweist, erscheint der Roman für Leser und Leserinnen unter 14 Jahren eher schwer verständlich. Angesichts seines historischen Hintergrunds bietet sich auf jeden Fall ein Einsatz im fächerübergreifenden Unterricht, d.h. Deutsch-Geschichte, an. Die Vermittlung historischer Fakten und Begebenheiten, die eng mit der Adoleszenzgeschichte Ewas verknüpft sind, erfolgt sehr ausführlich und erscheint durch ihre Komplexität an manchen Stellen etwas aufgesetzt. Während in vielen Jugendbüchern zum Thema Verfolgung oder Widerstand im Nationalsozialismus die Perspektive der Juden oder einzelne Oppositionsversuche innerhalb Deutschlands beschrieben wird, schafft Schenks Roman eine innovative Darstellung der Situation der polnischen Bevölkerung. Er bietet mit Ewas Rolle im polnischen Widerstand eine wichtige Identifikationsfigur an, deren Situation stellvertretend für weitere Schicksale gesehen werden kann.
Der Roman bietet für einen möglichen Einsatz in der Schule verschiedene Anknüpfungspunkte. Neben der Darstellung der Identitätsfindung Ewas und dem historischen Bezugsrahmen findet auch eine teilweise ironisierte Darstellung der Rolle der Medien während des Nationalsozialismus statt. Durch Vergleiche mit unterschiedlichen Quellen, Dokumenten, Fotos oder weiteren Zeitzeugenberichten lassen sich Bezüge zur Lektüre herstellen, so dass sich für die Schüler ein Gesamtbild erschließt, das ihre eigenen Interessen und Lesarten unterstützt.

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Diese Rezension wurde verfasst von RD.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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