weggesperrt

Autor*in
Poppe, Grit
ISBN
978-3-7915-1632-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
330
Verlag
Dressler
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2009
Lesealter
14-15 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

1988: Die Mutter der 14-jährigen Anja hat einen Ausreiseantrag gestellt. Da sie auch sonst durch Eingaben und Beschwerden schon auffällig geworden ist, werden Mutter und Tochter nachts verhaftet, voneinander getrennt und Anja landet zunächst in einem Übergangsheim, dann in einem Jugendwerkhof, zuletzt im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Eine sachliche Aufarbeitung des Unrechts an auffälligen Jugendlichen in der DDR.

Beurteilungstext

Grit Poppes Buch spielt 1988 unter den verschärften Bedingungen eines Staates kurz vor dem Kollaps. Niemand erklärt Anja etwas, niemand bemüht sich um ein Gespräch mit ihr, niemand gibt ihr Auskunft über den Verbleib der Mutter. Statt von der Mutter nach wenigen Tagen abgeholt zu werden, wird sie in einen Jugendwerkhof gebracht, wo sie einem strengen Drill, Schweigegeboten, Verboten, militärischer Ordnung, Strafen unterstellt wird. Vor allem fehlt das Gespräch mit der total verunsicherten Jugendlichen. Sie gilt als auffällig und aufsässig, sieht verwundert, dass es eine Akte über sie gibt, in der von ihrem gelegentlichen Schulschwänzen die Rede ist, ihrer Weigerung, in die FDJ einzutreten. Aber niemand gibt ihr Auskunft über den Verbleib der Mutter, niemand sagt ihr, warum sie dort eingewiesen wurde oder wie lange sie dort bleiben muss. Der Kontakt zu den Mitbewohnerinnen ist schwierig, auch weil Anja versucht, sich hinter einer Maske der Gleichgültigkeit zu verbergen. Bloß niemanden an sich heranlassen! Niemandem etwas von sich verraten!
Sie nutzt eine Gelegenheit zur Flucht, findet auch den Weg zum Bruder der Mutter und seiner Familie, wo sie einige Wochen über Weihnachten halbversteckt lebt. Aber die Spannungen mit dem opportunistischen Onkel nehmen zu, Anja wird von der Polizei abgeholt und ins Heim zurückgebracht. Als Strafe kommt sie in die Arrestzelle, eine weitere Stufe der Demütigungen, Kontaktsperre, Isolation.
Als endlich ein Brief der Mutter kommt, weigert sich die Erzieherin, ihr diesen auszuhändigen mit dem Hinweis auf den schädlichen Einfluss der Mutter auf sie. Das lässt Anja so ausrasten, dass sie die Erzieherin mit einem Stuhl niederschlägt.
Daraufhin erfolgt ihr Transport in den geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau. Dort hat Grit Poppe, gestützt auf zwei Zeitzeugen und die dortige Ausstellung, geforscht, so dass ihre Geschichte durch Fakten abgesichert ist. 4000 Jugendliche sollen zwischen 1964 und 1989 in Torgau "weggesperrt" worden sein.
Alle Entscheidungen über Anja fallen, ohne dass sie jemals gefragt wird, ohne dass sich auch nur eine/r der ErzieherInnen jemals einen Gedanken über sie zu machen scheint. Nur im Übergangsheim gibt es eine jüngere Erzieherin, die versucht den Kindern und ihren Bedürfnissen entgegenzukommen, die sich aber auch gezwungen sieht, die amtlichen Entscheidungen durchzuführen - wie die Trennung eines eng verbundenen Geschwisterpaares in zwei verschiedene Heime. Alle anderen "Pädagogen" praktizieren eine Erziehung durch Drill, Zwangssport bis zum Zusammenbruch, ewiges Putzen. Drakonische Strafen sollen zu totaler Anpassung an die von den Erwachsenen gesetzten Normen führen, die für die Jugendlichen undurchschaubar und völlig willkürlich sind.
Angefangen vom diktatorischen Heimleiter bis zu den sadistischen "Betreuern" terrorisiert das Personal, das die Mädchen selbst auf der Toilette nicht aus den Augen lässt - im Gegenteil! - durch körperliche wie mentale Gewalt die Jugendlichen. Durch die Bestrafung der jeweils ganzen Gruppe für das Versagen Einzelner z. B. beim Sport oder bei der Erfüllung der Normvorgaben ihrer Arbeit wird zusätzlich erreicht, dass es innerhalb der Gruppe zu nächtlichen Bestrafungen kommt.
Ähnliches an Gefangenenliteratur haben wir mehrfach gelesen, nie aber etwas zeitlich uns so Nahes und nie Vergleichbares über Kinder in der Haft - klammert man die KZ-Literatur einmal aus.
Vieles von dem, was Kordon für die 50er Jahre im Kinderheim Königsheide in seinem autobiografischen Roman “ krokodil im Nacken” Beltz 2002 schilderte, findet sich hier wieder, nur in maßlos gesteigerter und pervertierter Form.
Vergleiche zwischen der DDR und dem 3. Reich finden wir grundsätzlich problematisch, zu unterschiedlich ist ihr Menschenbild. Aber hier ist das anders, in dieser Sondersituation sind beide Systeme nahezu deckungsgleich. In beiden Systemen wird die individuelle Persönlichkeit komplett negiert, bis die Jugendlichen, mit der Angst vor der Unberechenbarkeit gebrochen sind. Als weiterer literarischer Vergleich drängt sich geradezu "1984" auf.
Die Autorin hat offensichtlich gut recherchiert. Eng bleibt sie an der Perspektive des fassungslosen Mädchens, das anfangs überhaupt nicht begreift, wie ihr geschieht. Erst nach und nach und äußerst schmerzhaft kann sie sich dem blanken Terror wenigstens so weit anpassen, dass sie nicht noch Schlimmeres erlebt. Dennoch geht sie alle denkbaren Strafmaßnahmen durch, sie kann einfach nicht nur den Mund halten. Zu widersinnig sind die Anweisungen der WärterInnen. Lebensfeindlich und lebensverachtend ist die Grundhaltung der Erwachsenen in den Werkhöfen. Begriffe wie Demokratie oder Humanität oder Sozialismus sind nur Worthülsen, deren eigentliche Bedeutung in schärfstem Kontrast zu ihrem Verhalten steht.
Das Erschrecken über vergleichbare Schilderungen der unglaublichen DDR-Haftbedingungen in den 50er Jahren wird beim Lesen des Buches dadurch gesteigert, dass sich in dem halben Jahrhundert bis 1989 nichts verändert hat. Und besonders erschreckend ist: Im Torgauer Jugendwerkhof waren ausschließlich Jugendliche, die nicht kriminell, sondern - wie Anja - "auffällig" geworden waren, gegen die keine Gerichtsverhandlung geführt wurde, die nie darstellen konnten, was sie zu dem Einlieferungsgrund zu sagen hätten. Gespräche fanden nicht statt, für die Jugendlichen bestand ein 24-stündiges Redeverbot.

Der Schluss ist für Jugendliche emotionaler Geschichtsunterricht: Hier erlebt ein junger Mensch den Aufbruch im Oktober/November 1989 in Leipzig. Die euphorische Stimmung teilt sich Anja unmittelbar mit, die Freude über die Freiheit, die Aussicht darauf, nicht mehr gefasst zu werden und das Wiederfinden ihrer Mutter in Freiheit decken sich mit der Aufbruchsstimmung in dieser Stadt, in diesem Land.
Inhaltlich mag hier ein kleiner Bruch vorliegen, denn Anja gelingt eine zweite Flucht, sie taucht unter falschem Namen unter und in einer neuen Welt auf, ohne dass wir genau wissen, wie es dazu gekommen - im Gegensatz zu dem vorherigen Teil, in dem jeder einzelne, schmerzhafte Schritt beschrieben ist. Aber dieser Bruch ist von der Autorin sehr wahrscheinlich gewollt: Jetzt beginnt etwas Neues, und nur so kann der (junge) Leser ein gewisses Maß an Versöhnlichkeit empfinden.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von uwo/cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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