Und auch so bitterkalt

Autor*in
Schützsack, Lara
ISBN
978-3-596-85619-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
176
Verlag
FISCHER Schatzinsel
Gattung
Ort
Frankfurt
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Melina erzählt die Geschichte ihrer geliebten Schwester Lucinda von Sommer bis Winter eines Jahres.
Lucinda ist magisch schön mit einer starken Anziehungskraft, der sich nur wenige entziehen können. Sie ist wie ein funkelnder Stern, weit weg, bezaubernd und eisig kalt. Sie macht sich ihre eigenen unerbittlichen Regeln. Wer sie liebt, muss diese befolgen und kommt ihr doch nicht nah. Daran zerbricht nicht nur Lucinda selbst, sondern auch die, die sie lieben.

Beurteilungstext

Pubertät, Magersucht, Selbstmord, Elternohnmacht, innige Schwesternliebe: die Themen des Buches zeigen eine mögliche Schwerverdaulichkeit des Romans an. Zugegeben, das ist nicht jedermanns Geschmack, aber es ist ein bewegendes Leseerlebnis.
Melina ist die distanzierte Chronistin eines Familienzusammenbruchs. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive und erzeugt bei den LeserInnen einen enormen Lesesog. Wir lesen ihre Beobachtungen, ihre Gedanken und Gefühle und müssen uns selbst einen Reim darauf machen, denn Melina reflektiert das Geschehen kaum. Für ihre Schwester empfindet sie uneingeschränkte Bewunderung. Sie ist grenzenlos fasziniert von Lucindas Erzählungen und glaubt an Tenebrien. Dort sind alle, die ""…Dünnhäutigen, die Gläsernen… All die Narben, die wir auf dieser Welt bekommen haben, heilt das Tenebrische Meer."" S. 10 Und unbestreitbar, Lucinda ist einzigartig in ihrer gesamten Erscheinung. Sie hebt sich nicht nur äußerlich vom Mainstream der Umgebung ab. Melina erliegt der Anbetung für ihre große Schwester fast bis zur Auslöschung. Widerstandslos erfüllt sie deren Anweisungen. Nur einmal ergreift sie die Initiative und handelt nach eigener Überzeugung.
Lucinda sieht sich und die Welt um sich herum verzerrt und mit Erwartungen aufgeladen. Sie ist auf ""inneren Abwegen"" und provoziert mit Intelligenz und Unangepasstheit. Aber nirgends ist jemand, der sich ihr in den Weg zu stellen vermag, der ihr Orientierung geben kann. Hin und wieder ist sie mit Jungen im Keller. Was sie dort machen, bleibt dem Kopfkino des Lesers überlassen. Aber die Jungs verlassen den Keller immer mit verstörtem Gesichtsausdruck und kommen nie wieder. Einzig Jarvis erliegt der Verzauberung. Von ihm erwartet Lucinda bedingungslose, hingebungsvolle Liebe mit gefährlicher Beweisführung. Das sind ihre Regeln. Sie glaubt an die Macht der zerstörerischen Liebe und ihr eigenes Dasein als Muse. Ihre Lebens-Anleitung findet sie in etlichen Liedern, insbesondere von Janis Joplin. Intertextuelle Bezüge in Form englischer Liedzeilen geben dem Roman eine poetische Dimension mit Tiefgang.
Jarvis erhängt sich im Garten, die Handlung kippt und nimmt an Fahrt auf. Der Schmerz wird zu einem stillen Schrei. Die abweichende typographische Gestaltung der folgenden Seiten drückt die Leere und Sprachlosigkeiten auf der schwarzen Doppelseite prägnant aus. Danach bleibt alles dunkel: Lucindas Selbstaufgabe ebenso wie die verzweifelten Rettungsversuche der hilflosen Eltern. Form und Inhalt bilden eine geniale Einheit.

Lara Schützsack schreibt in ihrem Debüt klar, fast emotionslos und erzeugt einen Rausch an sprachlicher Erzählkunst. Metaphern und Vergleiche erlauben dem Leser einen tiefen Blick in die Gefühlswelt der Figuren, sie rufen Mitgefühl für alle involvierten Personen hervor. Farben und Geräusche spielen dabei eine bedeutsame Rolle. In der kurzen Erzählzeit von Sommer bis Winter erfasst sie das Porträt einer verwirrenden Lebensphase ohne Happy End.
Der Leser erfährt nicht, weshalb sich Jarvis das Leben nahm, warum Lucinda das Essen verweigert, welche Bücher ihr Vater nach Hause bringt, welche Gespräche beim Therapeuten geführt werden und ob Lucinda überhaupt weiterhin zur Sitzung geht. Melinda bleibt die ergebene Komplizin ihrer Schwester. Unter ihren Blicken verwandelt sich die geliebte Schwester immer weiter in etwas, was nicht mehr da sein will, weil sie in ihren Körper nicht leben kann. Anders als üblicherweise in Büchern dieser Thematik ist hier das liberale Elternhaus unversehrt, scheinbar intakt. Ihr ergebnisloser Aktionismus flankiert das unaufhaltsame Hinabgleiten Lucindas.
Liebe, Sehnsucht, Sinnsuche, Traurigkeit und Tod sind die Motive des Romans.
Ein eindringliches Buch, das den Leser spüren lässt, wie wichtig es ist, immer wieder miteinander zu sprechen, nachzufragen. Gab es einen Punkt, an dem Lucinda hätte gerettet werden können? Diese Frage stellt sich hartnäckig nach dem Lesen. Das kann gute Literatur leisten, das Nachdenken über Alternativen.
Die Gestaltung des Covers ruft zunächst Irritationen hervor. Ein Balancieren auf dem Drahtseil scheint mit dem Titel keine Verbindung eingehen zu können. Nach der Lektüre sieht man das Cover mit anderen Augen.
Ein Buch, das den Leser fordert, berührt, erschreckt und unschlüssig zurücklässt.
Sehr zu empfehlen für Leserinnen ab 16 Jahren.

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Diese Rezension wurde verfasst von Han.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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