Nächte im Tunnel

Autor*in
Woltz, Anna
ISBN
978-3-551-58474-8
Übersetzer*in
Kluitmann, Andrea
Ori. Sprache
<Niederländisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
222
Verlag
Carlsen
Gattung
Buch (gebunden)
Ort
Hamburg
Jahr
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die 14jährige Ella, ein Mädchen aus der englischen Unterschicht, schildert als Ich-Erzählerin ihre Erlebnisse in London während der deutschen Luftangriffe im Jahr 1940.

Beurteilungstext

Nur Großeltern werden sich noch an den Zweiten Weltkrieg erinnern und wissen, wie es ist, wenn Menschen während eines Bombenangriffs in Kellern, Luftschutzbunkern oder Eisenbahntunnels Schutz suchen. Sie werden diesen beeindruckenden Jugendroman anders lesen als Kinder der bislang friedlichen Jahrzehnte in Europa. Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das, was die Autorin erzählt, von beängstigender Aktualität. Der Roman spielt im September 1940. Jede Nacht fliegen deutsche Bomberflugzeuge über London und werfen ihre tödliche Last ab. Jede Nacht heulen die Sirenen, jede Nacht suchen Frauen und Kinder, Alte und Schwache Schutz in den Bunkern und U-Bahnhöfen Londons, und jeden Morgen werden Tote geborgen, Verwundete versorgt und Trümmer beseitigt. Einmal sagt die Ich-Erzählerin Ella über die Situation im Tunnel: „Hier ist kein Blut, es gibt keine Sirenen, niemand schießt. Kein Soldat ist zu sehen, kein Churchill, kein Hitler. Nichts außer ganz normalen Menschen, und genau deshalb habe ich Tränen in den Augen.“ Und so muss dieser Roman als ausgesprochener Anti-Kriegsroman gelesen werden, weil er aus der Sicht der 14jährigen Ella die Leidenden, die wahren Kriegsopfer schildert. Ella ist ein Mädchen aus der britischen lower class, der ärmeren Unterschicht. Sie hat eine Polio-Erkrankung knapp überstanden und ist jetzt leicht gehbehindert. Mit ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Robbie und ihrer Familie muss sie jeden Tag um einen Platz in einem überfüllten U-Bahnhof kämpfen, um eine Chance zu haben, die nächtlichen Bombenangriffe der Deutschen zu überleben. Sie lernt den zwei Jahre älteren Joy kennen, einen kleinen, aber recht harmlosen Gauner, der im Wesentlichen davon lebt, dass er Schlafplätze in den U-Bahntunnels reserviert und dann verkauft. „…wir sehen London vor unseren Augen abbrennen, während wir gerade erst mit unserem armseligen Scheißleben angefangen haben…“, fasst er zusammen. Zwischen Ella und Joy entwickelt sich ganz langsam eine verhaltene Liebesgeschichte, die aber den Krieg überdauern und zu einem guten Ende kommen wird. Und da ist noch neben Robbie die 15jährige Quinn aus gräflicher Familie, die von Zuhause ausgebüxt ist, weil sie das wenig sinnvolle Wohlleben satt hat und in London als Krankenschwester helfen möchte. „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich zu etwas nütze…“, sagt sie einmal. Und Quinn ist dann auch die einzige dieser kleinen Gruppe junger Menschen, die den Krieg nicht überleben wird, weil sie bei einem Hilfseinsatz von einem explodierenden deutschen Blindgänger getötet wird. Neben Krieg und einer eingebetteten Liebesgeschichte schlägt die vielfach ausgezeichnete Autorin noch eine weiteres Thema an, nämlich den Unterschied zwischen lower und upper Class, zwischen den Armen und den Steinreichen, zwischen Proletariat und adeligen Großgrundbesitzern. Und dieses Problem berührt den sensiblen Leser genauso wir Krieg und Liebe. Dieses ausgesprochen spannende, berührende und aufrüttelnde Buch ist nicht nur sehr gut geschrieben, sondern auch ausgezeichnet übersetzt. Es kann den jungen Lesenden (und auch Erwachsenen) helfen, bei aktuellen politischen Fragen einen eigenen Standort und eine eigene Antwort zu finden auf die Frage Ellas: „Wer um alles in der Welt bin ich?“

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Diese Rezension wurde verfasst von rem; Landesstelle: Baden-Württemberg.
Veröffentlicht am 11.01.2023