Manchmal muss man Pferde stehlen

Autor*in
Michaelis, Antonia
ISBN
978-3-7512-0028-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Oetinger
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2022
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Freizeitlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Antonia Michaelis erzäht eine spannende Ausreißergeschichte. Das mag für eine gute Freizeitlektüre reichen - für ein anspruchsvolles Kinderbuch aber noch nicht.

Beurteilungstext

Tariq ist mit seinem 15jährigen Bruder aus Afghanistan geflohen, lebt in einem Kinderheim und besucht die örtliche Grundschule. Anna lebt mit ihrem Vater im gleichen Dorf – weigert sich aber konsequent, mit anderen Menschen als ihrem Vater zu sprechen. Sie besucht die gleiche Klasse wie Tariq.
Diese beiden Figuren bestimmen die Handlung, werden ausgeformt, erzählerisch wird meist eine der beiden Sichten fokalisiert, die Handlung entwickelt sich also aus der Perspektive dieser beiden Außenseiter:innen: Tariq ist aus Afghanistan traumatisiert und gerät dadurch immer wieder in – oft gewaltsame – Konflikte mit Mitschüler:innen, zudem "leiht" er sich gern etwas aus, ohne dass die Dinge zurückgegeben werden. Betreuende im Heim und die Klassenlehrerin kommen nicht an ihn heran, obwohl sie sich große Mühe geben. Auch Anna ist dem pädagogischen Blick der Klassenlehrerin ausgesetzt; verschiedene therapeutische Absätze sind gescheitert, so auch der Versuch einer Reittherapie. Und doch sind es gerade die beiden Ackergäule des Dorfnachbarn Hansen, die Tariq und Anna zusammenführen. Tariq, dessen Familie in Afghanistan eine Reitschule hatte, sucht ein Pferd für seine Flucht und den Weg zu seinem Bruder. Anna will mit Hilfe der Pferde ihre Ängste überwinden, um dem Vater nicht zu enttäuschen. Und so greift eines in das andere: Tariq kann das eine Pferd, Apfelmütze, zum Reiten zähmen, Anna findet schnell einen Zugang zum anderen Pferd, Wackelpo, und lernt blitzschnell das Reiten. Weil sich Tariqs Situation immer weiter zuspitzt, machen sich beide zusammen auf den Weg zur Ostsee und zu Tariqs Bruder. Ein Roadmovie auf Pferden, bei dem Annas Vater, Landwirt Hansen und Malte, der Betreuer von Tariq, eine wohlwollende Verfolgerrolle einnehmen. Nachdem Anna und Tariq dessen Bruder gefunden haben, scheitert der Versuch der Flucht mit einem Schiff nach Dänemark, weil ein Sturm aufkommt. Gerettet werden Kinder und Pferde von den Erwachsenen. Am Ende wendet sich dann alles zum Guten.
Abgesehen von kleineren Längen in dem Roadmovie entwickelt sich eine spannende Handlung, die in großen Teilen von erfahrenen Leser:innen aber vorhersehbar ist. Schade ist allerdings, dass in der Erzählung die Figuration wenig überzeugt und so manche Passage zu unmotiviert daherkommt. Wenn Anna im Mai von Klasse 4 noch kein einziges Wort im Unterricht gesprochen hat, ist ihr Verhalten außergewöhnlich und wahrscheinlich wäre eine Auffälligkeit im Authismusspektrum diagnostiziert worden. Sie ist als Singulärfigur konzipiert, die letztlich für die Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf steht. Ihre "Heilung" erfolgt hier wundersam und unmotiviert: Ihre Angst will sie selbst überwinden, um dem Vater zu gefallen. Und so bringt sie sich fast selbst das Reiten bei und kann innerhalb von 2 Tagen sich nicht nur ohne Sattel auf einem Pferd halten, sondern mit ihm auch über Zäune springen. Und ebenso ist die Heilung ihrer Sprachbarriere eine Wunderheilung. Botschaft: Beeinträchtigungen sind überwindbar, wenn man nur will. Das ist eine sehr problematische Sicht auf Einschränkungen.
Tariq scheint in der Klasse das einzige Kind mit Migrationshintergrund zu sein; ihm steht keine Figur an der Seite oder gegenüber, die die Vielfalt migrantischen Erlebens aufzeigen kann. Dadurch wird verstärkt, dass manches stereotypische Verhalten zwar erklärt wird (das Klauen, die Gewalt), dem wird aber kein Gegenmodell gegenübergestellt. Gelungen ist allerdings die fokalisierte Erzählweise, wenn Tariqs traumatische Sicht geschildert wird, die ihm einen Blick auf wirkliches Geschehen verbaut und so manche problematische Handlung von ihm nachvollziehbar macht. Es ist aber im Jahr 2022 unwahrscheinlich, dass in einer Klasse nur ein Kind mit Zuwanderungshintergrund zu finden ist. Tariqs Inszenierung steckt voller Stereotype als "unzähmbarer Wilder", der mit der Natur (Pferde, Feuer, Meer) hervorragend zurechtkommt, seinen Zorn aber nicht beherrschen kann. Er ist (als Junge) Mentor für Anna, leitet sie an. Auch seine Sprache, die mal mehr, mal weniger durch grammatische Fehler und semantische Unschärfen gekennzeichnet ist, trägt dazu bei, Stereotypen des wilden Fremden aufzubauen. Schade.
Wird im realistischen Modus erzählt, muss nicht jede Handlung auch wahrscheinlich sein. Gerade unwahrscheinliche Dinge, die eigentlich nicht passieren können, theoretisch aber möglich sind, können Erzählungen im realistischen Modus interessant machen. Bisweilen können sie aber nerven. Kann man in zwei Tagen Reiten lernen? Warum können Ackerpferde einfach so über einen Zaun einer Pferdeweide springen? Warum fallen die reitenden Kinder so wenigen Menschen auf? Warum muss ausgerechnet bei einem Gewitter der Baum, unter dem Anna durchreitet, vom Blitz getroffen werden, obwohl das für die weitere Handlung überhaupt nicht wichtig ist? Wieso kann Anna am Ende lange im sturmtosenden Meer schwimmen, obwohl überhaupt nicht angelegt ist, dass sie eine gute Schwimmerin ist? Im Einzelnen mögen solche Unwahrscheinlichkeiten hingenommen werden und auch Spannung erzeugen - in der Summe leidet aber die psychologische Tiefe der Figuren.
Antonia Michaelis ist eine vielgelesene Kinder- und Jugendbuchautorin, die auch deutlich bessere Bücher geschrieben hat, etwa "Der Koffer der tausend Zauber". Schade, dass dieses Buch dahinter zurückbleibt.

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Diese Rezension wurde verfasst von Christoph Jantzen; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 07.10.2023