Kollektorgang

Autor*in
Blum, David
ISBN
978-3-407-75734-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
128
Verlag
Beltz & Gelberg
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Weinheim
Jahr
2023
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein Boxkampf auf Leben und Tod. Freundschaften, eine erste zarte Liebe, Verrat und Frustration, kaputte Familien. David Blum erzählt eine Geschichte aus der Nachwendezeit – irgendwo in den namenlosen Plattenbauten einer ostdeutschen Großstadt; eine Geschichte wie aus einer anderen Zeit und doch verwurzelt in der jüngeren deutschen Vergangenheit.

Beurteilungstext

Sie leben in erster Linie auf den Höfen, die von den Plattenbauten begrenzt werden, in denen sich ihre Wohnungen befinden. Hier spielt sich das gesellschaftliche Leben ab, hier werden Freundschaften geschlossen und beendet, hier wird gespielt und gekämpft – gegeneinander und gegen die Mitglieder der anderen Gangs; häufig auch einfach nur gegen die Langeweile. Marios bester Freund ist Stefan, er ist stärker und beschützt ihn häufig gegen Hänseleien. Als eine neue Familie in den Block einzieht, gerät etwas in Bewegung. Mario nähert sich langsam an Rajko an und er ist auf die denkbar schüchternste Art verliebt in seine Schwester Ema. Sie sind mit ihrer Familie vor dem Krieg im auseinanderbrechenden Jugoslawien geflohen. Die Clique vertreibt sich die Zeit im Hof; Stefan und Rajko trainieren intensiv in einem Boxclub. Immer mehr Jungen aus der Nachbarschaft rasieren sich die Köpfe und fädeln weiße Schnürsenkel in ihre Stiefel – Skinheads dominieren bald die Aktivitäten in der Nachbarschaft. Rajko entdeckt ein zugemauertes Loch in einer Wand. Die Jungen stemmen mit primitivem Werkzeug in mühevoller Arbeit ein Loch hinein und können schließlich hindurchkriechen. Dahinter verbirgt sich ein Kollektorgang: ein Versorgungstunnel, der die Plattenbauten verbindet und durch den die Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und Abwasser sichergestellt wird. Der düstere und enge Gang wird ihr Reich; sie richten sich „gemütliche“ Ecken mit Sperrmüll ein und verbringen zunehmend Zeit hier. Die Idylle zerfällt, als andere Jugendliche das Geheimnis entdecken, eindringen und Mario und seine Freunde vertreiben. Vor allem Nicki tut sich dabei hervor – der Anführer einer Gang von jungen Neonazis, die für ihre Brutalität berüchtigt sind. Als Stefan seine Freunde verrät und zu Nickis Bande überläuft, als Rajko schwer verletzt wird und Ema ein Tuch gestohlen wird, das für sie eine wichtige Erinnerung ans das Leben in der früheren Heimat war, eskaliert die Situation. Nachdem Rajko genesen ist und wieder boxen kann, fordert er Nicki zum Showdown heraus. Es ist ein ungleicher Kampf im Gang. Nickis Leute legen die Regeln fest; sie halten Mario und Ema als eine Art Geißeln in der Hinterhand und beleidigen Rajko rassistisch. Dieser wird brutal zusammengeschlagen. Als Mario ihm zu Hilfe kommen will, wird er erstochen – er ist keine 14 Jahre alt geworden. Mario erzählt die Geschichte seines kurzen Lebens aus dem Grab heraus; mit dem „Wissen“ eines Toten.
David Blum hat ein sehr eigentümliches schmales Buch geschrieben. Es wirkt ein wenig „aus der Zeit gefallen“ – nicht im Heute angesiedelt, könnte es ebenso in der Bronx der Siebziger, in einer Arbeitersiedlung im Wedding in der frühen Dreißiger, oder eben auch in der „Platte“ einer namenlosen ostdeutschen Großstadt der frühen Neunziger spielen. Blum erzählt eine Coming-Of-Age-Geschichte, die archaisch und roh wirkt, aber auch sehr poetische und zarte Stellen aufweist. Er verdichtet die Handlung auf schlaglichtartige Episoden, in denen es um die ganz großen Dinge geht – um Liebe und Freundschaft, um Kampf, um Verlust und Tod. Herausfordernd ist die Komposition des Buches. Blum verzichtet auf chronologische Erzählstränge. Stattdessen reiht er einzelne Episoden aneinander, die immer wieder in den Zeiten hin- und herspringen. Eine große Zeitebene bildet die Gegenwart, die aus dem „Danach“ besteht – aus dem Rückblick Marios aus dem Grab heraus. Er interagiert dabei mit anderen Beerdigten, vor allem mit einem älteren Mann namens Hoffmann. Von hier aus stellt er Details aus seinem Leben dar. Dabei dominieren die Szenen, in denen er die Aktivitäten mit den Freunden und Feinden auf dem Hof und im Kollektorgang schildert. Eingestreut aber sind auch immer wieder Episoden aus seiner Familie; einer traurigen Familie, die vom Auseinanderleben von Mutter und Vater, von Sprachlosigkeit und Verzweiflung geprägt wird. Die Ebene der Toten irritiert dabei, sie wirkt sehr konstruiert und eigentlich überflüssig. Welche Rolle der immer wieder präsente Hoffmann spielen soll, wird nicht klar. Die Szenen zwischen den Jugendlichen dagegen sind mit großer erzählerischer Kraft gestaltet; sie sind extrem verdichtet, auf das Wesentliche konzentriert, mit starken sprachlichen Bildern jenseits von Klischees. Die Protagonisten außer Mario sind karg charakterisiert, gewinnen aber dennoch viel Statur, sofern die Leserinnen und Leser bereit sind, die vielen „Leerstellen“ mit eigenen Vermutungen und Interpretationen zu füllen. Vor allem Rajko nimmt eine zentrale Rolle ein; in gewisser Weise verkörpert er das Prinzip des Guten in einer trostlosen und gewalttätigen Welt. Der Autor verweist im Nachwort auf ein historisches Vorbild für diese Figur – den Sinto „Rukeli“ Trollmann, einen exzellenten Boxer, der dem Massenmord der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. David Blum hat ein sperriges, aber hochinteressantes Stück Literatur geschaffen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 12.04.2023

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