Kinderland

Autor*in
Mawil,
ISBN
978-3-943143-90-4
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
296
Verlag
Reprodukt
Gattung
Comic
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
29,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein wunderbarer Mix aus melancholischer Kindheitsnostalgie und witziger Reflexion: Die Jury des Erlanger Comic-Salons ernannte den autobiografisch gefärbten Comic ""Kinderland"" von Mawil gerade zum besten deutschsprachigen Comic des Jahres. Es ist die Geschichte von Mirco Watzke. Das alter Ego des Autors und Zeichners Markus Witzel steckt am Vorabend des Mauerfalls in der Klemme. Der sonst so kleinlaute und ängstliche Schüler der Klasse 5a hat Ärger mit den FDJlern, seinen Eltern und den „Großen“

Beurteilungstext

Über ein halbes Jahrzehnt nach seiner letzten Veröffentlichung meldet sich Mawil mit „Kinderland“ eindrucksvoll in Comicszene & Feuilleton zurück und unterstreicht seinen Ruf als einer der versiertesten Comicautoren in Deutschland. Sein neuer, durchaus abendfüllender 300-Seiten-Comic in Orwo-Farbe über (s)eine Kindheit zwischen jungen Pionieren und Kirche; Freundschaft, Mut und Vertrauen; einem Tischtennisturnier und dem Mauerfall überzeugt auf ganzer Linie – inhaltlich und formal.

Dem Genre nach ist Mawils bisher umfangreichste Graphic Novel ein kleiner Bildungsroman im Stile einer Coming-of-Age-Geschichte. Thema ist die erste existentielle Reifeprüfung eines Heranwachsenden und das damit verbundenen Ende der Kindheit. Eingebettet ist diese schon oft erzählte Geschichte allerdings in das Panorama des Alltags der späten DDR, am Vorabend der Wende – und die Darstellung dieses Panoramas ist eine Sensation, weil ein Wunder an unprätentiöser Genauigkeit der Beobachtung. In ihrer stilisiert pointierten Form bildet sie das Dasein in der späten DDR genauer ab als jede filmische Dokumentation und jedes Museum.
Auf der Bildebene transportiert „Kinderland“ die DDR in nuce: Bereits auf der ersten Seite des Comics wird im zeitlosen Perspektivwechsel einer Morgendämmerung in sechs einzelnen Panels ein Kinderzimmer vorgestellt, wie es in den 70ern und frühen 80ern tatsächlich oft aussah: Pittiplatsch teilt sich das Regal mit einem Schlumpf und einer Indianerfigur, und die Abrafaxe aus dem ""Mosaik"" stehen neben der obligatorischen DDR-Schreibtischlampe. Auch in späteren Sequenzen des Comics wird viel Zeit und Liebe fürs Detail darauf verwendet vor den Augen des Lesers ein Panorama des öffentlichen Lebens der DDR zu entfalten: Trabanten knattern über löcherige Straßen, Mittwochs um ein Uhr heulen auf allen Dächern die Sirenen, es wird nackt in Brandenburger Seen gebadet, Pioniere sammeln Altstoffe, Halbwüchsige tauschen Depeche-Mode-Platten gegen Zylinderkopfdichtungen für ihr S-50-Moped, Schüler leisten ""produktive Arbeit"" in Fabriken...
Die Story des Comics ist so simpel wie kurz: Der Siebtklässler Mirco Watzke wird am 9.11.1989 von der Öffnung der innerdeutschen Grenze kalt erwischt. Kurz zuvor schien sein Traum – ein Tischtennisturnier an seiner Ost-Berliner Oberschule – endlich greifbar nah. Dann zerfällt über Nacht nicht nur sein Traum von diesem Turnier – sondern ein ganzer Staat. Und noch schlimmer: Mirco merkt auch, dass seine Kindheit vorbei und sein „Kinderland“ zerstört ist.
Das bemerkenswerte an „Kinderland“ ist weniger seine Story als vielmehr seine Darstellungsweise. Denn es versucht diese Geschichte aus der Perspektive eines Dreizehnjährigen zu erzählen. Mawil heißt mit bürgerlichem Namen Markus Witzel und er war selbst dreizehn, als es mit der DDR zu Ende ging, wie Mirco Watzke, sein Antiheld aus „Kinderland“. Er ist ein Zonenkind wie alle zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen. Sie kennen diesen Staat nur noch aus der Perspektive und Wahrnehmung des Kindes – unzusammenhängend, lose, unverstanden, als eine Compilation einzelner Bilder und Phrasen – und immer leicht von unten, aus der Froschperspektive sozusagen.
Das Medium des Comics eignet sich hervorragend diese Art der kindlichen Wahrnehmung zu transportieren - als scheinbar unzusammenhängende Sammelsurium von Einzelerinnerungen in perspektivierten und unreflektierten Bildern und Worten. In assoziativen Weise erzeugt Mawil sein historisches Dekor: Dort spricht jemand im Hintergrund „vom Massaker in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens“; hier liegt unter dem ""Neuen Deutschland"" plötzlich ein ""Spiegel"" auf dem Schreibtisch der Lehrerin. Man hört neben heimlichem Getuschel vom „Rübermachen“ die offensiven Parolen gegen den „Scheiß Osten!“.
Daraus ergibt sich ein gekonnter Wechsel in Tempo und Rhythmus der Erzählung: Mircos Coming-of-Age-Geschichte um die Freundschaft mit Torsten Maslowski und das geplante Tischtennisturnier wird mit hoher Geschwindkeit vorangetrieben – die geschichtlich-kulturelle Kulisse der späten DDR lädt zur ruhiger Kontemplation ein.
""Kinderland"" sollte eigentlich schon 2009 fertig werden, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Was da los gewesen wäre! Staatlich anerkannte Experten und Aufarbeiter hätten im Namen der PC Mawil mindestens Verklärung und Verharmlosung vorgeworfen – einige sicherlich auch Verfälschung. Heute ist die Kunst auf seiner Seite: Aus der Perspektive der Zonenkinder muss die DDR wie ein Märchenreich wirken, von dem nie zuvor so treffend erzählt worden ist, dass die Generation zwischen 1975 und 1985 darin nicht ihre Kindheit wiederfinden könnten.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von OWA.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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