Jockels Schweigen

Autor*in
Stern, Adriana
ISBN
978-3-941787-26-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
320
Verlag
Jacoby & Stuart
Gattung
Ort
Berlin
Jahr
2011
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
14,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Als der 16-jährige David hinter dem Rücken der Eltern seinen kleinen Bruder Jockel bei einer Schauspielagentur anmeldet, nimmt das Unheil seinen Lauf. Schon kurze Zeit später bemerken David und seine Eltern schlimme Veränderungen an Jockel. Doch nicht nur sein Bruder gibt David Anlass zur Sorge, auch sein bester Freund Chip wird immer verschlossener und aggressiver. Gemeinsam mit seiner Freundin Julie kommt David dem schrecklichen Geheimnis auf die Spuf...

Beurteilungstext

Um zwei Famillien geht es in Adriana Sterns fesselndem Jugendroman: Da ist auf der einen Seite die deutsch-jüdische Familie Grün mit ihren beiden Söhnen David, 16 Jahre, und Joachim, genannt Jockel, 10 Jahre alt. Und auf der anderen Seite gibt es die russisch-jüdische Familie Sapoznikow, die vor einigen Jahren von Sankt Petersburg nach Deutschland gekommen ist, ohne richtig angekommen zu sein mit ihren Kindern Jewdokim, genannt Jewo, Jeff oder Chip, 16 Jahre und der 14-jährigen Julia. Die Verbindung zwischen diesen beiden in Köln lebenden Familien wird hergestellt durch die Freundschaft zwischen David und Chip und später auch durch die Liebe zwischen David und Julia. Allein die Schilderung dieser beider so unterschiedlichen Familien mit ihrer jeweiligen Geschichte, ihren Traditionen und Problemen ist schon äußerst interessant. Doch das eigentliche Thema des Romans, das sich so nur auf Grund der jeweiligen Familiensituation entfalten kann, ist ein anderes: Missbrauch.

Der zeitliche Rahmen unfasst ein halbes Jahr und ist in Form von Datum und Monat als Kapitelüberschrift vorgegeben. Die Handlung setzt ein im Januar 2008 an einem Freitagabend, als die Situation vordergründig noch normal ist. Traditionell verbringt Familie Grün den Sabbat zusammen und nutzt die gemeinsamen Stunden, um vom Verlauf der Woche zu erzählen. Wichtige Änderungen stehen an, die nicht nur für die einzelnen Personen, sondern für die gesamte Familie folgenschwere Auswirkungen haben werden:
Die Mutter Miriam möchte nach vielen Jahren zu Hause wieder anfangen, in ihrem Beruf als Erzieherin zu arbeiten; Raffael, der Vater, hat die Absicht, aus seinem anstrengenden Beruf als Klinikanästhesist auszusteigen und sich als Schmerztherapeut ausbilden zu lassen und Jockel kündigt den Wunsch an, von seiner Theatergruppe zu einer Filmagentur zu wechseln. Nur David, aus dessen Sicht das Geschehen geschildert wird, kommt nicht dazu, seine Probleme - Jockels Übergriffe auf seinen Computer und Chips undurchsichtiges Verhalten - zu schildern, zu aufgeheizt ist die Stimmung nach den einzelnen Bekanntgaben. Dieser Freitagabend ist für lange Zeit das letzte Mal, dass die Familie in dieser vertrauten Weise zusammen ist, denn nun überschlagen sich die Ereignisse, und zwar für jeden einzelnen der vier Familienangehörigen, die deswegen in Folge so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie den Blick für die andern verlieren. Raffael Grün unterläuft bei einer Operation ein schwerer Kunstfehler, so dass er sich in Sorgen und Schuldgefühlen verliert; Miriam Grün, die bislang vor allem für ihren anhänglichen und ängstlichen Sohn Jockel eine wichtige Bezugsgröße im Alltag darstellte, ist nun tagsüber außer Haus; Jockel velässt gegen den Willen seiner Eltern die Schauspielgruppe und meldet sich heimlich mit Hilfe einer von David gefälschten Unterschrift bei einer Agentur für junge Schauspieler an und David verliebt sich heftig in Julie, die jüngere Schwester von Chip, mit der ihn seiner Begeisterung für das Snooker-Billiard verbindet.

Aus der Perspektive von Chip bzw. Jewo spult sich der zweite Handlungsstrang ab, jedoch nicht wie Davids Erzählhaltung in der Ich-Form und im Präsens, sondern in der 3. Person Präteritum als erlebte Rede. Auch Chips Familie zeichnet sich, wie Davids Familie, durch einen liebevollen Umgang aus. Doch auch hier gibt es dunkle Geheimnisse, die vor den anderen streng gehütet werden. So weiß niemand, dass der Vater nur deswegen den Billiardsalon als Betreiber mieten konnte, weil sich sein Sohn schon seit Jahren in den Fängen des Vermieters, Herrn Kirsch, befindet, der ihn sexuell missbraucht und ihn in seinem Club auch anderen Männern überlässt. David hingegen fällt auf, dass sich sein Freund immer mehr verändert: Er ist sehr reizbar, wird schon bei geringfügigen Anlässen höchst aggressiv mit einem Arsenal unflätiger sexueller Schimpfworte und er hat unerklärlich viel Geld zur Verfügung. Zunehmend gerät die Freunschaft von Chip und David in eine Schieflage, aus der ihnen auch nicht mehr ihr gemeinsames Hobby, das Erfinden und Programieren von Computerspielen, heraushilft. Doch David verbringt sowieso immer mehr mehr Zeit mit seiner Freundin Julie, so dass weder ihm noch den Eltern die Veränderungen bei Jockel auffallen, der kaum noch Zeit zu Hause verbringt, sondern sich nur noch in der angeblichen Filmagentur aufhält. Im Mai schließlich ist sein Verhalten so auffällig, dass wirklich niemand mehr die Augen davor verschließen kann: Jockel ekelt sich heftig vor Lebensmitteln wie Eier und Milch, wacht nachts schreiend aus wilden Albträumen hoch, schreckt vor Berührungen zurück, schwänzt die Schule und betrinkt sich.

Am Fronleichnam-Wochendende laufen die Erzählstränge zusammen und die Katastrophe erreicht ihren Höhepunkt; ab hier wird aus dem sensiblem Adoleszensroman ein nervenaufreibender Krimi: In einem abenteuerlichen Showdown liefern sich die Bösen gegen die Guten Verfolgungsjagden, Enführungen, Erpressungen und Gewalt. Julie und David finden heraus, dass es sich bei der Filmagentur in Wirklichkeit um einen Sexclub handelt, in dem kleinen Jungen von Männern missbraucht und Filme davon gedreht werden. Den theoretischen Hintergrund zu diesen unglaublichen Ereignissen liefern die Erklärungen von der Beratungsgruppe Pänz Up, an die David sich gewandt hat. Und diese Einschübe retten den Roman auch davor, sich nun allzu einseitig im Krimi-Genre zu verlieren, das mit nicht sehr großer Überzeugungskraft bemüht wird (so ist Jeffs Überraschung über den Besitz einer Pistole beim skrupellosen Clubbetreiber Herr Kirsch ebenso unwahrscheinlich wie die Entscheidung der Eltern Grün, selbst in dieser hochdramatischen Phase die Polizei nicht einzuschalten).

Das Ende ist dementsprechend etwas unbefriedigend, da der Leser über das Ergehen der beiden Opfer, Jockel und Jeff, weitgehend im Unklaren gelassen wird. Diese erzählerische Dürftigkeit wird aufgefangen durch ein denkenswertes Nachwort der Kölner Beratungsgruppe Pänz Up und den Anhang mit Adressen von Beratungsstellen in ganz Deutschland.

Im Ganzen ist “Jockels Schweigen” ein überaus faszinierendes Buch, das es in seiner Dichtigkeit und bedrückenden Dramatik dem Leser kaum erlaubt, es zur Seite zu legen. Dazu trägt sicherlich auch die zarte Schilderung der wunderschönen Liebe zwischen David und Julie bei, der es auch keinen Abbruch tut, dass Julie für eine 14-jährige allzu gütig, klug und verständnisvoll erscheint.
Adriana Stern ist hier ein wichtiger und guter Beitrag “gegen das Schweigen” gelungen, sie leistet damit einen entscheidenden Beitrag gegen Missbrauch und für Kinder.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von hit.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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