Heul doch nicht, du lebst ja noch

Autor*in
Boie, Kirsten
ISBN
978-3-7512-0163-6
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
187
Verlag
Oetinger
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
14,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Aus der Perspektive von zwei Jungen und einem Mädchen, deren personale Erzählstränge und exemplarische Schicksale geschickt miteinander verwoben werden, vermittelt der Roman einen Eindruck vom Leben in Deutschland kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Beurteilungstext

Der zeitgeschichtliche Roman spielt gut sechs Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Hamburg inmitten von Trümmern, englischer Besatzung, Einquartierungen und Schwarzmarktgeschäften. Er nimmt damit die historische Zäsur des von den einen gefürchteten, aber an sich niemals für möglich gehaltenen, von den anderen hingegen ersehnten Endes der NS-Zeit in den Blick, die sogenannte „Stunde Null“. Erzählt wird exakt eine Woche von der „Nacht von Freitag, 22.6.1945 auf Samstag, 23.6.1945“ bis „Freitag, 29.6.1945“.
Das narrative Präsens versetzt die Leserinnen und Leser mitten hinein ins Geschehen, und die Aufgliederung des Romans in gleich drei personale Erzählstränge, zwischen denen beständig gewechselt wird, sorgt für einen ebenso differenzierten wie eindringlichen Einblick in diese so einschneidende Zeit: Drei vierzehnjährige Jugendliche, zwei Jungen und ein Mädchen, mit ganz unterschiedlichen Vorgeschichten und familiären Hintergründen haben gerade den Krieg überlebt und müssen nun aus den Trümmern ihrer Häuser und Leben einen Neubeginn schaffen. Die zehn Kapitel des Romans sind nur mit den genauen Zeitangaben, die zugehörigen Unterkapitel schlicht mit einem der drei Vornamen überschrieben, was dem Roman etwas Dokumentarisches und seinen drei fiktiven Protagonisten etwas Zeitzeugenhaftes verleiht. Die durchgängig eingehaltene multiperspektivische Erzählhaltung erlaubt es Boie, die Gedanken, Gefühle und Erinnerungen dieser drei auf das Genaueste auszuleuchten. Dadurch können sich die jugendlichen Leserinnen und Leser sehr gut in alle drei Figuren einfühlen und Verständnis für ihr Denken und Handeln aufbauen.

Da ist zum einen Jakob, mit dessen Handlungsstrang der Roman beginnt. Ihm und seinem Schicksal als Kind eines sogenannten „Ariers“ und einer Jüdin widmet Kirsten Boie mit 21 Unterkapiteln am meisten Raum. Die anderen beiden Figuren haben nur 14 bzw. 15 Unterkapitel erhalten. Nach dem Tod seines Vaters und der darauffolgenden Deportation seiner Mutter mit einem der letzten Transporte nach Theresienstadt hält sich Jakob mit Hilfe eines ehemaligen Nachbarn in den Ruinen eines zerbombten Hauses im Stadtteil Eilbek versteckt. Er ist hier so isoliert, dass er erst nach gut zwei Dritteln des Romans realisiert, dass der Krieg schon seit Wochen vorbei ist.
Hermann, der andere Junge, ist in gewisser Weise sein Antagonist. Ganz der Bedeutung seines Namens entsprechend ist er ein „Mann des Heeres“: Von klein auf ist er mit der NS-Ideologie indoktriniert worden, er war HJ-Führer und wenn seine Mutter es ihm nicht verboten hätte, hätte er in den letzten Kriegstagen noch im Volkssturm mitgekämpft. Mit dem Kriegsende holt ihn die Realität ein. Seine Welt liegt in Trümmern und sein Vater als Kriegsversehrter ohne Beine auf dem Küchensofa. Von dort aus terrorisiert er seine Familie mit seiner Wut und seiner Verzweiflung. Von seiner Frau verlangt er jede Nacht sexuelle Befriedigung, sein Sohn muss ihn alle zwei Stunden eine halbe Treppe tiefer auf die Toilette tragen. Manchmal ist es zu spät, und der Vater hat sich bereits eingenässt. Durch Jakob wird Hermann mit der Realität der Judenverfolgung konfrontiert.
Gegenüber Jakobs und Hermanns harten „Überlebensumständen“ erscheint Trautes Schicksal vergleichsweise harmlos. „Wir haben so ein Glück gehabt!“, sagt Trautes Mutter. Beide Eltern sind unversehrt, ebenso wie das Haus, in dem sie wohnen und eine Bäckerei haben. Was Traute vor allem vermisst, sind die Schule und der Alltag mit ihren Freundinnen, die im Hamburger Feuersturm umgekommen sind. Bei ihr scheint die nationalsozialistische Erziehung kaum ideologische Spuren hinterlassen zu haben. Vielmehr tritt sie im Roman als Vermittlerin und Brückenbauerin auf: Um bei Hermann und den anderen Jungen mitspielen zu dürfen, stiehlt sie ein Brot aus der Backstube. Als ihre Eltern daraufhin die bei ihnen im Wohnzimmer einquartierten ostpreußischen Flüchtlinge des Diebstahls verdächtigen, beichtet sie alles und sorgt in der Folge für ein gutes Verhältnis zu der Familie. Und als Hermann sich von Jakob hintergangen fühlt, weil dieser den Kindern zunächst seine wahre Identität verborgen und sich stattdessen als der Waisenjunge Friedrich ausgegeben hat, ist sie es, die sofort Anteil an Jakobs Schicksal nimmt und zu ihm hält.

Alle drei Protagonisten sind auf je unterschiedliche Weise Opfer des Nationalsozialismus bzw. seiner Erziehung geworden. Um zu überleben, waren oder sind alle drei gezwungen zu lügen und zu stehlen, alle drei machen im Kontakt miteinander bedeutende Entwicklungen durch und schaffen so die Grundlage für einen echten Neubeginn. Selbst Hermann gelangt schließlich zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass das, was er für die Wirklichkeit gehalten und woran er geglaubt hat, in Wahrheit ganz anders war. Derart geläutert und zudem durch den Selbstmord seines Vaters von der Last der Verantwortung befreit, kann er sich am Ende des Romans sogar vorstellen, mit Ludwig, dem Cousin seines Vaters, der bereits 1930 während der Wirtschaftskrise nach Amerika ausgewanderte und nun als Dolmetscher mit der US-Armee zurückgekommen ist, nach Amerika zu gehen – an einen Ort, an den, wenn alles gut gegangen wäre und sie ein Visum bekommen hätten, eigentlich Jakob mit seinen Eltern emigriert wäre. Und Jakob? Der darf am Ende sogar seine totgeglaubte Mutter in die Arme schließen, die als eine der wenigen aus dem KZ Theresienstadt zurückgekehrt ist. „Vielleicht wird wirklich alles gut“, so lauten denn auch die letzten Worte des Romans.
Diese überraschende Wende und mit ihr die hoffnungsvollen Zukunftsperspektiven der drei jugendlichen Hauptfiguren sind vielleicht nicht ganz glaubwürdig, jedoch – gerade für jüngere Leserinnen und Leser – allemal tröstlich. Denn Kirsten Boie beschönigt nichts, sondern erzählt in ihrem Anfang 2022 erschienenen dichten Roman nachdrücklich und rückhaltlos von einer Zeit, in der Erwachsene und Kinder von jahrelangem Krieg, von Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Luftangriffen und Hunger körperlich und seelisch schwer gezeichnet waren. Ein Roman, der angesichts des russischen Angriffskriegs, der kurz nach seinem Erscheinen in der Ukraine begonnen wurde, eine ganz andere Aktualität gewinnt. Für den Unterricht hält er ohne Frage vielfältige Identifikationsangebote und Anknüpfungspunkte bereit.

Lohnend ist es aber sicher auch, die Sprache des Romans genauer unter die Lupe zu nehmen. Da ist zum Beispiel der ostpreußische Akzent, mit dem Traute durch die bei ihr einquartierte Familie Makuleit konfrontiert wird. Wie Traute selbst bemerkt, geht mit dem besseren Kennenlernen der einzelnen Familienmitglieder auch eine veränderte Wahrnehmung ihrer Sprache einher: Was anfangs als fremd und merkwürdig empfunden wurde, wird allmählich immer normaler.
Aufmerksamkeit verdienen aber auch die vielen Aussagesätze in direkter oder erlebter Rede, die unmittelbar mit dem PRÄDIKAT beginnen: „»Die wollte ich ihr schon längst schenken! HAB ich nur immer vergessen.«“ (S. 83). Solche Ellipsen, die in der gesprochenen Sprache vollkommen gebräuchlich sind, können auch auf die emotionale Erregung einer Figur hinweisen: „Dabei, was haben sie denn anders gemacht, die Amis und die Tommys und alle auf der anderen Seite? HABEN doch auch gekämpft an der Front und auf unsere Soldaten geschossen! HABEN doch auch Bomben abgeworfen!“ (S. 71). Bei dem weggelassenen ersten Satzglied handelt es sich entweder um ein Demonstrativ- oder ein Personalpronomen, das problemlos aus dem Kontext erschlossen werden kann, oder aber um ein letztlich bedeutungsleeres ‚es‘: „WAR aber schließlich doch nicht so gekommen. GAB ja keinen Wohnraum mehr in der zerbombten Stadt.“ (S. 20)

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Diese Rezension wurde verfasst von Frederike Eggs; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 23.08.2022